Kat. Nr. 9
VINCENZO CATENA (um 1480-1531)
«CHRISTUS TRÄGT DAS KREUZ»
Holz ; 43,3 X 38,4 cm; unten um 3,4 cm angestückt
Inv. Nr. G 35
Das Gemälde befand sich im Besitz Maria Theresias, Herzogin von Savoyen,
Tochter des Fürsten Johann Adam Andreas I.
Erworben: vermutlich vor 1712 durch Fürst Johann Adam Andreas I.
Christus, der das Kreuz auf dem Weg nach Golgatha trägt, ist
das Thema der kleinen Tafel Vincenzo Catenas. Es ist eine Epi-
sode des Passionsgeschehens. Sie wird hier eigentümlich ver-
halten vorgetragen. Allein die Gewandfarben, die als Topoi zur
christlichen Ikonographie, insbesondere der Mariendarstellung
gehören, bringen Bewegung und eine lebensvolle Spannung in
die Komposition. Der Raum und die Gesten, ja selbst die Bewe-
gung der Gesichtszüge wirken reduziert. Ruhe durchzieht die
gesamte Komposition. Das Kreuz ist parallel zur Bildfläche
geführt. Kreuzesstamm und Christusfigur bilden Diagonalen,
die sich im Zentrum des Bildes schneiden. Christus erscheint als
Dreiviertelfigur. Er wendet sich en face aus dem Bild heraus,
ohne daß wir jedoch seine Augen auf uns gerichtet fühlten.
Ruhig sinnend schaut er mit ernstem Blick vor sich hin und zeigt
im Moment des Leidens eher reflektierende Züge. Ein melan-
cholischer Schleier umgibt diese Christusfigur und schafft eine
Distanz, die der Betrachter zwischen dem eigenen und dem
bildlichen Subjekt spürt. Aus dem Gefühl von Trennung ent-
steht die Trauer um das Opfer, den Erlöser, der hier seinen Tod
bereits angenommen hat.
Obwohl Darstellungen des kreuztragenden Christus in Oberita-
lien zu Beginn des Cinquecento durchaus häufiger anzutreffen
sind und auch als Holzschnitte Verbreitung fanden, gehört die
liechtensteinische Tafel wohl doch unmittelbar in ein veneziani-
sches Entstehungsambiente, Im Unterschied zu Leonardos Fas-
sung, die als Zeichnung eines Christuskopfes in Venedig (Gal-
leria dell’Accademia, Inv. Nr. 231) überliefert ist und den
Darstellungen seiner Nachfolger, z.B. Andrea Solarios, sowie
auch den nordalpinen Formulierungen des Themas, etwa bei
Martin Schongauer und Hieronymus Bosch, enthält sich diese
Komposition einer dramatischen Zuspitzung und verzichtet
auch auf eine realistische Verdichtung in Details. Für die liech-
tensteinische Formulierung ist dagegen die statuarische Ruhe
bezeichnend, eine gewisse formale Gefaßtheit der Figur, die,
wie auch der Bildaufbau insgesamt, deutlich an die Porträts des
Venezianers Giorgione erinnert. Als Beispiele für das «Brust-
stück im Dreiviertelprofil mit sichtbaren Händen» ist an das
Berliner «Bildnis eines jungen Mannes» (Staatliche Museen zu
Berlin, Gemäldegalerie) und an «La Vecchia» (Venedig, Galle-
ria dell’ Accademia) zu denken.
Der kreuztragende Christus, der in zwei Fassungen des Spät-
werkes von Giovanni Bellini in Toledo (Ohio, Museum of Art)
und, wichtiger noch, in Boston (Isabella Stewart Gardner
Museum) überliefert ist, scheint darüber hinaus sogar die unmit:
telbare Inspirationsquelle für das liechtensteinische Bild gewe-
sen zu sein.
Innerhalb dieser gestalterischen Koordinaten überzeugt die
ursprünglich von Suida mündlich vorgenommene Zuschreibung
an Vincenzo Catena, die auch Robertson 1954 in seinem
Oeuvrekatalog für wahrscheinlich hält. Zeigt sich Catenas Werk
auch grundsätzlich dem künstlerischen Einfluß Giovanni Belli-
ais eng verpflichtet, so fällt doch in manchen Bildern auch sei-
aer letzten Schaffensdekade, z.B. dem Porträt Giangiorgio Tris-
sinos (Paris, Musge du Louvre) und der «Heiligen Familie mit
Soldat» (London, The National Gallery) die deutliche Reminis-
zenz an Giorgione auf. In diesem «Neogiorgionismo» wiederer-
stehen Formen, die ihren Ursprung in der Avantgarde der vene-
zianischen Bildkultur zu Beginn des Jahrhunderts haben.
Diesem retrospektiven Zusammenhang in den zwanziger Jahren
entstammt die liechtensteinische Tafel. Auf motivische Über-
einstimmungen, etwa die Hände mit dem «Porträt eines Geistli-
chen» (Wien, Kunsthistorisches Museum) und die Augenlid-
formen bei der Figur des Täufers aus «Madonna und Kind mit
dem Heiligen Petrus und Johannes» (St. Petersburg, Eremitage)
at Robertson bereits hingewiesen.
Auch für die Gewandgestaltung der Christusfigur lassen sich
vielfach Parallelen im Oeuvre Catenas finden. Im Unterschied
zu den Gewändern historischer Porträtfiguren zeichnen sich die
Draperien der Heiligendarstellungen durch ihre sperrige Stoff-
lichkeit aus und lassen auch hierin ein archaisierendes Moment
erkennen. Große Stoffbahnen, die oft in harten Falten brechen,
verleihen den eher statuarischen Figuren ihr Körpervolumen.
Auch hier sind es die noch vor der Jahrhundertwende ent-
wickelten Formen Cimas da Conegliano und Giovanni Bellinis,
auf die sich Catena wieder bezieht. Auch das Christusgewand
zeigt jene altertümelnde Draperie.
Vincenzo Catena wurde wahrscheinlich um 1480 in Venedig
geboren, wo er 1531 auch verstarb. Eine Inschrift vom 1.6.1506
auf der Rückseite des Bildnisses der Laura von Giorgione
(Wien, Kunsthistorisches Museum) bezeichnet ihn als Mitarbei-
‚er der Giorgionewerkstatt. Nachfolgend zeigt er sich vor allem
durch das Spätwerk Giovanni Bellinis beeinflußt. Quellen bele-
gen vielfach seine Zugehörigkeit zu den venezianischen Huma-
nistenzirkeln, innerhalb derer er großes Ansehen genoß. M.H.
Ausstellung und Literatur: Seite 148