Volltext: Fünf Jahrhunderte italienische Kunst aus den Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein

Kat. Nr. 51 
Nach GIAMBOLOGNA (1529-1608) 
«RAUB EINER SABINERIN» 
(Florenz, Vorbild/Modell: 1581/82) 
Suß: Antonio Susini 
Bronze, goldbraune Patina, dunkelbrauner Lack 
Höhe 58 cm 
Iinv. Nr. S 115 
Erworben: 1980 durch Fürst Franz Josef IL. 
Eine unbekleidete, bärtige Männergestalt stemmt mit erhobenen 
Armen eine nackte, sich sträubende junge Frau, die abwehrend 
ihre beiden Arme auseinanderbreitet, empor. Zwischen den in 
weitem Schritt auf einer Terrainplinthe aufgesetzten Beinen der 
Männerfigur kauert ein älterer, ebenfalls unbekleideter Mann, 
der den Kopf und die Linke abwehrend erhoben hat. 
Als Ersatz für eine entsprechende Bronzegruppe, die im 19. Jahr- 
hundert veräußert wurde, wurde die Bronze 1980 erworben. Im 
Sammlungsinventar von 1658 werden sowohl eine nicht mehr in 
Liechtenstein erhaltene zweifigurige Gruppe des Sabinerinnen- 
raubes als auch eine mit der hier besprochenen Komposition 
übereinstimmende Dreifigurengruppe aufgeführt: «Mehr ein 
Sabiner undt ein Römer, so auf einen stehet, welcher eine Sabi- 
nerin entragen thut». 
Die Gruppenkomposition bezieht sich auf eine Sage aus der 
römischen Urzeit: Da in der von Romulus gegründeten Stadt 
Frauenmangel herrschte, ließ dieser bei einem Festspiel, zu 
dem er die benachbarten Sabiner eingeladen hatte, die unver- 
heirateten Sabinerinnen entführen (zum Thema siehe auch das 
Gemälde von Sebastiano Ricci, Kat. Nr. 36). 
Die Bronze ist eine Reduktion von Giambolognas 1581/82 ent- 
standener monumentaler Marmorgruppe in der Loggia dei Lanzi 
an der Piazza della Signoria in Florenz. Mit diesem Bildwerk 
hatte Giambologna eine der bedeutendsten und entwicklungs- 
geschichtlich folgenreichsten Bilderfindungen der abendländi- 
schen Kunst geschaffen. Die dreifigurige Marmorgruppe ist eine 
formale Weiterentwicklung einer zweifigurigen Raptusgruppe, 
die nur in kleinformatigen Bronzegüssen ausgeführt wurde; 
dokumentiert ist das Exemplar für Ottavio Farnese, den Her- 
zog von Parma (Museo Capodimonte, Neapel). Giambologna 
ergänzte die frühere Version für die Monumentalskulptur durch 
die Figur des kauernden älteren Mannes, was bei der Aus- 
führung in Marmor aus statischen Gründen notwendig war. 
Auf exemplarische Weise wird in der Schöpfung Giambolognas 
ein Hauptanliegen manieristischer Skulptur verwirklicht: die 
«figura serpentinata». Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde 
in theoretischen Diskussionen immer wieder gefordert, daß ein 
vollkommenes plastisches Kunstwerk zahlreiche gleichwertige 
Ansichten besitzen müsse. Die vielfältig bewegte, sich spiral- 
(Örmig nach oben entwickelnde Figurengruppe des Raubes der 
Sabinerin erreicht dieses Ideal wie keine andere Skulptur im 
16. Jahrhundert. Bereits beim «Apollino» (Kat. Nr. 48) hatte 
Giambologna bei einer Einzelfigur dieses Ideal verwirklicht. 
Angeblich soll Giambologna die Monumentalgruppe ohne Auf- 
rag geschaffen haben, allein als Beweis seiner Virtuosität in der 
Bearbeitung des Marmors. Der Titel der Komposition soll nicht 
vom Künstler selbst, sondern — erst nachträglich — von seinem 
Freund, dem Humanisten Raffaello Borghini, festgelegt worden 
sein. Hinsichtlich der zweifigurigen Raptusgruppe für Ottavio 
Farnese hatte sich Giambologna in einem Brief an seinen Auf- 
traggeber geäußert, daß das Thema der Bronzegruppe keines- 
falls eindeutig sei. So könne sie den Raub der Helena oder der 
Proserpina, oder aber auch den einer Sabinerin darstellen. 
Geschaffen worden sei die Komposition, so der Künstler, allein 
deshalb, «um der Kenntnis und dem Studium der Kunst eine 
Gelegenheit zu geben» (Ausst. Kat. Wien 1978, S. 17, 140). Im 
nachhinein wurde ein — ebenfalls von Giambologna geschaffe- 
nes — Relief am Sockel der Marmorgruppe angebracht, um das 
Thema der freiplastischen Komposition erzählerisch zu ver- 
Jleutlichen. 
iambolognas Marmorgruppe wurde nach ihrer Enthüllung im 
Januar 1583 vom kunstverständigen Florentiner Publikum große 
Bewunderung entgegengebracht. Sie wurde in einer Reihe von 
Gedichten überschwenglich gelobt. Man würdigte die darge- 
stellte Handlung und die Fähigkeit des Künstlers, unterschied- 
ıiche Menschengestalten gleichermaßen trefflich zu charakte- 
cisieren, das schwache Alter, die robuste Jugend und die 
weibliche Zartheit. In Anspielung auf Pygmalion bewunderte 
man Giambolognas Vermögen, scheinbar lebendige Menschen 
n Marmor zu Bildern werden zu lassen. Graphische Repro- 
luktionen und Verkleinerungen in Bronze sorgten gleichfalls 
Jafür, daß Giambolognas Meisterwerk binnen kurzer Zeit weit 
über Italien hinaus Berühmtheit erlangte. 
Die liechtensteinische Bronze zeichnet sich durch ihre hohe 
‚echnische Meisterschaft aus. Prägnant treten die Detailformen 
zum Beispiel in den Physiognomien oder bei den deutlich mar- 
kierten Fingergliedern in Erscheinung. Die Formensprache ist 
derjenigen Giambolognas aufs engste verwandt, so daß anzu- 
ıehmen ist, daß die Bronze von Antonio Susini (dokumenta- 
isch seit 1572 in Florenz nachweisbar — gestorben 1624 ebenda) 
ausgeführt wurde. Wie kein anderer seiner zahlreichen Mitar- 
beiter vermochte es dieser talentierte Handwerker, Giambo- 
ognas Modelle kongenial in Bronze zu reproduzieren. V.K 
Ausstellung und Literatur: Seite 158
	        

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