Volltext: Kleinstaat

Hans Geser Nur unter Aufbietung bewusster Anstrengungen auf individueller und kollektiver Ebene bleibt man lebenslänglich im innerlichen Sinne "Liech­ tensteiner", wenn man täglich vorwiegend mit Schweizern oder Österrei­ chern zu tun hat und wenn man in einem Meer von Kommunikationen und kulturellen Produktionen schwimmt, die alle den Stempel exogener Her­ kunft tragen. Franzose, Engländer oder Amerikaner bleibt man demgegenüber allein dadurch, dass man seine alltäglichen Kontakte pflegt und die im Lande selbst erzeugten Produkte und Informationen rezipiert. Konträr zum Kleinstaat entsteht in grossen Staaten aus dem Eigengewicht endogener Interaktionsprozesse nämlich eine "natürliche Zentripetalität" und sich selbsttragende Integration, die keiner Verstärkung durch zusätzliche Anstrengungen und artifizielle Veranstaltungen bedarf. Genau umgekehrt muss ein planvoller Aufwand betrieben werden, um (z.B. durch das Erler­ nen von Fremdsprachen, durch Studentenaustauschprogramme oder das Forcieren des Aussenhandels) gegenüber dem internationalen Raum eini- germassen offen zu bleiben. So können die grösseren europäischen Staaten beispielsweise erst durch Integration in die Europäische Gemeinschaft jenen Grad an transnationaler Verflechtung erreichen, der sich in Kleinstaaten schon lange vorher aus dem Normalverhalten ihrer Bevölkerung und Unternehmungen ergab. Umgekehrt bildet die formelle Nichtteilnahme an supranationalen Orga­ nisationen für Kleinstaaten häufig ein Mittel, um der hohen informellen Auslandsverflechtung ein - vielleicht nur symbolisches - Element der Distanzierung entgegenzusetzen, anstatt sie durch formelle Mitgliedschaft noch weiter zu erhöhen. Eine etwas speziellere Version des "Oberflächenmodells" stammt von Peter M. Blau, der in seinem überaus fruchtbaren theoretischen Werk "Inequality and Heterogeneity" die Auswirkungen diadischer Beziehungen zwischen Mitgliedern verschieden grosser Kollektive untersucht (Blau 1977). Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass zwischen einem Staat K mit 1 Mio. und einem Staat G mit 50 Mio. Einwohnern lOO'OOO bilaterale Beziehungen (z.B. Geschäftskontakte oder Eheschliessungen) bestehen, so sind im kleinen Staat, 10 % aller Einwohner, im Grossstaat hingegen nur 0.2 % der Bevölkerung in solche transnationale Interaktionen involviert. Gemäss Blau hat diese Asymmetrie zur Folge, dass im kleinen Kollektiv eher eine Kultur entsteht, die durch adaptive Flexibilität, intellektuelle 50
	        

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