Bernd-Christian Funk Seit geraumer Zeit hat sich nun ein anderer Stil des verfassungsrechtli chen Denkens und Argumentierens und damit ein anderes VerfassungsVer ständnis durchgesetzt. Die Folgen sind bemerkenswert. So hat etwa der VfGH die grundrechtlichen Schranken für eingreifende Gesetzgebung im Sinne des Ubermassverbotes gedanklich entwickelt und teleologisch verfei nert. Dies hat zu einer - bislang noch nicht abgeschlossenen - judikativ erzwungenen
Liberalisierung der österreichischen Wirtschaftsordnung geführt, die seit jeher stark interventionistische Züge getragen hat. Eine ähnliche Bewegung hat es im Bereich der "althoheitlichen" Ein griffe der
Polizeiverwaltung gegeben. Auch hier haben der VfGH und die Lehre einem neuen, wesentlich freiheitsfreundlicherem Grundrechtsdenken zum Durchbruch verholfen.30 7. Die bisherige Entwicklung zeigt, dass Osterreich ein Staat mit einer intakten verfassungsrechtlichen Innovations- und Adaptionsfähigkeit ist. Die Entwicklung des österreichischen Verfassungsrechts ist auch durch vielfältige
Einflüsse aus dem internationalen Bereich geprägt. Dazu kommen Inspirationen und Rezeptionen von den Verfassungen anderer Staaten, ins besondere der Bundesrepublik Deutschland. Die Bilanz der verfassungs rechtlichen Transfers zwischen den beiden Staaten ist allerdings nicht ausge glichen; sie weist auf österreichischer Seite einen starken Importüberhang auf.31 Durch den angestrebten und zu erwartenden
EG-Beitritt Österreichs könnte die Kontinuität des bisherigen Verlaufes der Verfassungsentwick lung beendet werden. Durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten beeinträchtigt und letztlich sogar zum Verschwinden gebracht. . Die Gemeinschaft zieht zwar Souveränitätsrechte von den Mitgliedstaa ten (vorerst) nur insoweit ab, als es um die Verwirklichung von Zielen der wirtschaftlichen Integration geht. Selbst bei einer wirtschaftlichen Integra tion bleibt aber der erforderliche Transfer an Souveränitätsrechten von den Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft nicht auf ökonomische Kompetenzen 30 Als ein Ergebnis dieser Entwicklung kann die bereits in der B-VG-Novelle 1929 postulierte Kodifikation des Rechts der allgemeinen Sicherheitspolizei durch ein Sicherheitspolizeige setz (BGBl 1991/566) angesehen werden; zur Bedeutung der Judikatur des VfGH als Boll werk gegen Polizeiübergriffe siehe etwa die Nachweise bei Funk, Die Abwehr von Demonstrationsschäden aus der Sicht des Verwaltungsrechts, in: Schick/Funk/Posch (Hrsg.), Demonstrationsschäden (1989) 27 (32). 31 Siehe Funk, Bericht Österreich, in: Battis/Manrenholz/Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen. 40 Jahre Grundgesetz (1990)53. 188