Peter Häberle Rezeption wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden, sie begegnet in vielen Formen und Abstufungen. So ist für die aus der Dekolonisation entstandenen Kleinstaaten typisch, dass sie noch stark durch die Verfassung und Rechtsordnung der alten
Kolonialmacht geprägt sind: Man denke an die Mikrostaaten des englischen Commonwealth und die Frankreichs, auch Spaniens etc. Mitunter lässt sich dies schon verfassungstextlich belegen.60 Eine zweite Form sind die Rezeptionen, die andere Mikrostaaten im Blick auf ihre
Nachbarn vornehmen. Liechtenstein ist hierfür in bezug auf Öster reich und die Schweiz, auch Deutschland ein gutes Beispiel. Im übrigen gibt es eine reiche Skala von Rezeptionsformen. Sie reicht von intensiver Teil oder Totalrezeption von Gesetzeswerken bzw. Rechtssystemen über die Rezeption einzelner Verfassungsprinzipien oder Rechtsinstitute bis hin zur lockeren Form von Vertragsabschlüssen oder Konföderationen. Freilich spielen sich produktive Rezeptionsvorgänge nicht nur auf der Ebene der Rechtsetzung ab. Nicht minder wichtig ist die Rezeption auf
wis senschaftlich-dogmatischer und
richterlicher Ebene. In diesen Zusammen hang gehört die schon erwähnte Aufwertung der Rechtsvergleichung zur "fünften" Interpretationsmethode.61 Überdies seien die Aktivitäten genannt, die einzelne Gelehrten(-gruppen) bei nationalen Verfassungs- oder Geset zesvorhaben als Sachverständige oder Gutachter entfalten. So ist bekannt, dass sich eine rumänische Delegation jüngst (1991) bei den Autoren des pri vaten Verfassungsentwurfs
Kölz/Müller (1984/90) in der Schweiz Rat holte. So hat sich Spanien im Prozess seiner Verfassunggebung 1977/78 der Hilfe deutscher Staatsrechtler bedient, und so durfte ich mich vor 2 Jahren zum Verfassungsentwurf des Kantons Tessin62 und im Juni 1991 vor dem Verfas- sungsausschuss des Sejm in Warschau zu dessen Verfassungsentwurf äus sern. Eine auffällige Form ist die Berufung
ausländischer Richter in das Verfas sungsgericht. Sie geschieht in einer kaum zu überschätzenden Weise in Liechtenstein, ist in Art. 105 seiner Verfassung im Grunde angelegt und sie darf wohl uneingeschränkt gerühmt werden, auch als Vorbild63 für andere kleine Verfassungsstaaten. 60 Dazu oben unter II 2. 61 S. oben, Anm. 5. 62 Dazu der von M. Borghi herausgegebene Band: Costituzione e diritti sociali, 1990, S. 99 ff. 63 Aus der Lit.: D. Thürer, Gute Erfahrung mit "fremden" Richtern, in: NZZ Beiträge Liech tenstein, Nr. 209 v. 10. September 1990. 162