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Bedürfnis, unserem geschwächten, der Kolonien beraubten, geteilten,
sicherheitsmäßig von außereuropäischen Mächten zugleich abhängi
gen wie bedrohten Kontinent, wenigstens im westlichen oder östli
chen Teil, Kraft zu geben, förderten Initiativen zu Zusammenschlüs
sen. Dazu kam der Druck einer rationalisierten, technisch hochge
züchteten, ökonomisch orientierten Industrie- und Wohlstandsgesell
schaft zur Konzentration und Blockbildung. Ob solche Kolosse kon
tinentalen oder regionalen Ausmaßes dem Weltfrieden und der glo
balen Integration förderlich sind oder nicht, ob die konkreten For
men und Inhalte europäischer Zusammenschlüsse der Geschichte und
der Natur Europas gerecht werden 2 ), mag an dieser Stelle dahinge
stellt bleiben. Innerstaatliche Probleme werden immer mehr zu inter
nationalen und gemeinsam gelöst. Sogar frühere internationale Zu
sammenschlüsse (zum Beispiel Benelux u. a.) verlieren in dem Maße
Substanz und Aufgabe, als nun größere Gemeinschaften (zum Bei
spiel EWG) an deren Stelle treten. So schmerzlich der Verlust ver
trauter Größenordnungen ist, er ist gegenwärtig ganz simpel ein Fak
tum, das wir nüchtern zur Kenntnis nehmen müssen.
Die internationale Umwelt hat sich verändert. Damit brechen auch
für die kleinen Staaten neue Zeiten an. In der herkömmlichen Ord
nung individueller, souveräner Staaten war es für die kleinen Staa
ten leichter, ihre rechtlich sozusagen gleichrangige Stellung zu halten.
Heute sind es in ganz neuer Größenordnung Staatengruppen in mul
tilateralem Zusammenschluß (und Superstaaten), denen der kleine
Staat gegenübersteht. Im dichtverzweigten Netz internationaler Be
ziehungen gibt es damit eine Unzahl von Verwaltungsknotenpunkten,
an denen die Kleinen rein numerisch nicht überall präsent sein kön
nen. Aus solchen und anderen Gründen kommt eine neuere Arbeit
über die sogenannten Mikrostaaten?) zum Schluß, daß man Staaten
mit weniger als 300 000 Einwohnern in der UNO in eine Kategorie
*) Wilhelm Röpke, «Die Problematik der EWG, von der Schweiz aus gesehen» in: «Die Schweiz
und die Integration des Westens», Seite 22: «Es ist Sorge um Europa, die uns vor allem anderen
eine heute offenbar nur noch von wenigen verstandene Frage stellen läßt: Droht nicht die EWG zu
einem Instrument der Einwalzung alles Verschiedenen, Mannigfaltigen und Selbständigen zu wer
den, zu einer Maschine der Zentralisierung und zu einem Kult des Kolossalen und technisch Per
fektionierten, zu einem technisch-organisatorischen Selbstzweck, bei dem die Frage »Wozu das
alles?' ins Leere stößt? Und könnte daher die EWG nicht mit einer Ironie, wie sie die Geschichte
liebt, zu einem Unternehmen werden, das im Namen Europas, aber ganz im Banne der Schaufel
bagger, Rechenschieber und Betonbauten das eigentliche Europa — ein Kultursystem mit seinem
ungeheuren Erbe, aber eine »Einheit in der Vielheit* H — л zerstört? Wie, wenn die EWG zu einem
Triumph einer rein quantitativen Kultur in Europa, zu einem Gipfel des Materialismus und Orga
nisationskultes unserer Zeit, zu einem wahren Verrat am geistig-moralischen Erbgut führt, mit
dem Europa steht und fällt als etwas Verteidigungswürdiges? Ist es nicht ein jakobinisches, hoch
zentralisiertes, bürokratisiertes und saint-simonistisches Europa, das man uns beschert? Daß so
viele, denen das an sich zuwider sein müßte, das nicht erkennen oder nicht zugeben, gehört zum
Bedrückendsten dieses bedrückenden Schauspiels. — Einem solchen Denken in grob materiellen
Größen haftet etwas Subalternes an, das es mit der materialistischen Geschichtsauffassung ver
bindet, die ja auch die materiellen Verhältnisse zum eigentlichen Motor der Geschichte machen
möchte.»
') Dieter Ehrhardt, «Der Begriff des Mikrostaats im Völkerrecht und in der internationalen Ord
nung», Aalen, 1970, Seite 102.