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Form der Begriffsdefinition. Sie wird vor allem zur Erfassung der
Frühkulturen verwendet, als anstelle des Instinktes Reflexion trat.
Die Ergebnisse der Reflexion sind in der materiellen Welt die Be
herrschung des Feuers und die Anfertigung von Werkzeugen, gleich
sam in der Wirksamkeit gesteigerte Organe, die als Maschinen eine
programmierte Tätigkeit ausüben. Der Mensch greift in die Natur
nach Zwecken verändernd ein. Im Stellen der Natur auf zeitliche und
örtliche Freigabe von Nahrungsmitteln wurzelt das Wort Kultur,
«cultura», was auf Lateinisch soviel wie Anbau, Bebauung und Bear
beitung heißt. Das will nicht sagen, daß die Leute des Paläolithikums
kulturlos lebten: Die Malereien des Aurignacien, Solutr£en und Mag-
daUnien (60'000 bis 8*000 v. Chr.) erreichten eine hohe Stufe künst
lerischen Schaffens, sozusagen die letzte Aussagemöglichkeit noma
denhaften und hordenhaften Herumziehens. Aus der Seßhaftwerdung
wuchs eine andere Form der Gemeinschaft in Dorf und Stadt. Kultur
und Gemeinschaft bilden seit dem Neolithikum die Basis der Ent
wicklung. Der Mensch wird mehr und mehr in eine verwaltete Natur
hineingeboren, bisweilen sogar in eine Metanatur, die ihm zur Gefah
renquelle wird.
Wie Sie bemerken, verläuft die Entwicklung nicht in gerader Linie.
Es sind großräumige Zyklen festzustellen. Die präagraren Kulturen
kannten nicht das Wort «Kultur», wohl aber höchste künstlerische
Leistungen: Der Bogen des mit «Kultur» Bezeichneten setzt immer
wieder auf neuen Pfeilern auf. Unser Kulturbegriff spannt sich vom
Ackerbau über die Dorfgemeinschaften, Völker und Staaten, über die
materielle Welt des Zeugs (im Sinne Heideggers) über Sprache zur
Philosophie, Kunst und Religion.
In neuerer Zeit wird der Kulturbegriff von der materiellen Welt ab
gehoben und auf rein geistige Bereiche verwiesen, während man den
hochentwickelten materiellen Bereich unter dem Wort Zivilisation
sammelt. Ich betrachte das als eine gefährliche Entwicklung, da da
durch die Kultur entwurzelt wird und des Mutterbodens verlustig
geht. Der materielle Bereich der Kultur aber verliert den Überbau.
Gleichzeitig nistet sich eine fatale Wertung ein. Das Geistige wird
zum Größeren, das Materielle zum Minderen. Hinzu kommt das
kartesianische Prinzip: «Wer das Größere kann, vermag auch das
Kleinere.» Und dann wird der Stolz zur puren Dummheit. Derweil
liegt die Wertskala für Kultur nicht im Vorrangigen, sondern im
anerkennenden Staunen, das nicht die Genauigkeit des wissen
schaftlichen Denkens hat, das erst weiß und dann staunt, während
die Intuition erst staunt und dann weiß.
Die Einengung des Kulturbegriffes auf geistige Güter wie: Kunst,