Gustav Klimt (1862-1918)
Sitzende alte Frau von vorne (Studie von Klimts Mutter), um 190
Feder in Tusche
54,7 X 34,8 cm
Bez. u. 1.: GUSTAV KLIMT
Strobl 3544
LSK 70.01
Ein Porträt Gustav Klimts von seiner Mutter, das 1898 als eines
der ersten secessionistischen Gemälde (vermutlich unter dem
Eindruck des zu seiner Zeit bahnbrechenden Bildnisses der
Mutter von James McNeill Whistler) geschaffen wurde, ist ver-
schollen.' Ein weiteres findet sich innerhalb des malerischen
(Euvres des Künstlers nicht. Gezeichnet wird Anna Klimt von
ihrem Sohn mehrmals, Sie sitzt dem jungen Schüler der Kunst-
gewerbeschule Modell, und auch als der erfolgreiche Künstler
professionelle Modelle heranziehen kann, entstehen im Kontext
des 1905 vollendeten Gemäldes Die drei Lebensalter Studien
alter Frauen, darunter auch Bildnisse der Mutter. Zu ihnen zählt
das vorliegende Blatt.? Für das allegorische Gemälde, das den
natürlichen Zyklus des menschlichen Seins zwischen Leben und
Tod, einen seiner zentralen Gedanken, thematisiert, greift Klimt
dann doch auf Entwürfe für Medizin zurück.‘
Der Vergleich mit der ersten, vermutlich 1878 entstandenen, den
Kopf erfassenden Kreidezeichnung der Mutter vermag die Ent-
faltung der aussergewöhnlichen zeichnerischen Begabung Klimts
aufzuzeigen.‘ Das Streben nach naturalistischer Plastizität während
der Akademiezeit weicht seit den späten neunziger Jahren einer
allein auf die Ausdruckskraft der Linie setzenden Zeichenweise.
Begleitet wird die Betonung des Umrisses von einer oft weitge-
henden Reduktion der Binnenzeichnung — eine Entwicklung,
die auch in dieser Federzeichnung wirksam wird. Im Gegensatz
zu den etwa gleichzeitig entstandenen Studien von Margaret
Stonborough-Wittgenstein ist sie von einer eher sperrig-spann-
nungsvollen Linienführung geprägt. Der durchgehende Kontur
umschliesst die Gestalt und akzentuiert das In-sich-Ruhen, wel-
ches der etwa 70jährigen Mutter eine verhaltene Würde verleiht.
Die ornamentale, die Rüschen einer Haube skizzierende Form
umrahmt das Haupt. Die starke Konzentration des beinah laby-
:inthisch verlaufenden Liniennetzes, welches das hagere Ge-
sicht in ein Dunkel hüllt, löst sich kontrastvoll in wenige klare,
ain Kleid andeutende Striche auf.
Der Blick kommt von fern und hält auf Distanz, und während
Gesicht und Hände Akzente setzen, lässt sich der Körper nur er-
ıhnen. Dass Klimt damit formale Elemente aufgreift, die er fast
ausschliesslich den Damenbildnissen vorbehält, scheint beim
Porträt der Mutter naheliegend — zumal der Künstler mit den
Studien zum ersten Bildnis von Adele Bloch-Bauer (1903/04)
«den Höhepunkt der Porträtzeichnung»* erreicht. Die räumliche
Situation der Zeichnung klärt sich mit der Kenntnis einer ähnli-
chen, sehr eindringlichen Darstellung der alten Mutter. Auf
jener ist im Hintergrund ein mächtiger Sessel angedeutet, des-
sen mit dem Saum des Rockes zusammenfliessender Umriss die
Gestalt in eine beinah runde Form einfasst. Die Studie der
Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung scheint dieses
pekannte Blatt vorzubereiten.‘ Klimts zu diesem Zeitpunkt ver-
stärkte Bemühungen um die Übertragung geometrischer Gestal-
tungsprinzipien auf den menschlichen Körper — angeregt «vom
<onstruktiven Jugendstil eines Josef Hoffmann und Kolo
Moser» "sowie von «antiker Vasenmalerei und japanische[n]
Holzschnitte[n]» — äussern sich in einer kompositionellen Lö-
sung aus drei zur kegelähnlichen Gesamtform aufgeschichteten
Kreisen.’ Doch nicht nur das «auf Formen und Tektonik fixierte
Sehempfinden» des Künstlers findet darin einen Ausdruck.* In
die mehrfach wiederholte Kreisform — Symbol der Vollendung —
scheint die Präsenz des Todes eingeschrieben. M.5S.
Novotny, Fritz; Dobai, Johannes: Gustav Klimt. Salzburg, 1967, S. 305, Komm
zu Abb. 90.
Strobl, Alice: Gustav Klimt. Die Zeichnungen, Bd. IV, Nachtrag, 1878-1918.
Salzburg, 1989, S. 137 u. 142, Nr. 3544.
Strobl, Alice: Gustav Klimt. Die Zeichnungen, Bd. II, 1904-1912. Salzburg, 1982.
8.51.
Strobl, Alice: Gustav Klimt. Die Zeichnungen, Bd. I., 1878—1903. Salzburg, 1980.
3.24, Nr. 26.
Strobl, Alice: Gustav Klimt als Zeichner. In: Gustav Klimt, Ausst.-Kat. Kunsthaus
Zürich. Stuttgart, 1992, 5.193.
Wie Anm. 2, S. 137.
Ebd.
Weidinger, Alfred: Der Landschaftsmaler. In: Gustav Klimt. Ausst.-Kat., wie
Anm. 5. S. 69.