Odilon Redon (1840-1916)
Christ, 1887
Lithographie
33,2-4 X 27 cm
44-45 X 34,58 cm
Mellerio 71
LSK 79.09
Odilon Redon hatte 1863 bei Rudolphe Bresdin eine Lehre in
Jandhabung der Lithographie und Radierung gemacht. Aber
rst Fantin-Latour führte ihn wirklich in die Kunst des Lithogra-
ohierens ein. 1899 waren bereits um die 160 Lithographien ent-
standen und berühmt geworden wegen ihrer schwarzen Farbe.
Zedon nannte seine Lithographien «meine Schwarzen», weil
Schwarz ihm die liebste Farbe in der Druckgraphik war.
«Schwarz ist die wichtigste Farbe. Nichts kann sie entwürdi-
zen.»' Selbst Degas, der nicht immer Bewunderer Redons war,
antzückten dessen «Schwarze», die «noirs»: «Aber sein
Schwarz! Oh! Dieses Schwarz [...] unmöglich etwas vergleich-
ar Schönes zu finden.»? Redon behandelte die Lithographie
wie eine Kohlezeichnung — und das ergab jene mystische Aus-
druckskraft, die seiner Graphik eine Sonderstellung einräumt.
Jas Christus-Blatt, in einer Auflage von 25 Exemplaren ge-
druckt, gehört zu den Einzelblättern und entsteht im gleichen
Jahr wie seine berühmten Lithographien Araignee, L’idole, das
Zrontispiz für Les soirs von Emile Verhaeren und für Le jure von
Edmond Picard. Redon liebte die Buchillustration, weil ihn das
Wort anregte. Gemäss einer inneren Wahlverwandtschaft inter-
gretierte er Edgar Allan Poe, Baudelaire, Flaubert. Die Poesie
der Symbolisten inspirierte ihn. Stephane Mallarme fühlte er
sich eng verbunden.
[n der Christus-Figur interessiert ihn das Mystisch-Tragische
der Erscheinung. Im vorliegenden Blatt dramatisiert er das Ant-
litz, indem er diesem eine mystisch-leidende Qualität verleiht.
Die riesigen Augen in den tiefen Höhlen haben visionäre Aus-
druckskraft. Zur dramatischen Anlage des imaginären Porträts
trägt der Kontrast von Helldunkel bei. Das Gesicht scheint aus
sinem dunklen bis schwarzen Hintergrund auf. Als Redon die-
ses Christus-Blatt entwarf, hatte er bereits Erfahrung im Um-
gang mit dem Mystisch-Unheimlichen. 1879 hatte Dans le reve
den Anfang der grossen Bildfolgen gemacht. 1883 schuf er Les
origines, und 1885 lithographierte er seine Bildfolge Hommage
ä Goya. Stets thematisierte er eine Welt des Mysteriums, der
Angst — die Realität unter den Vorzeichen des Traumes und der
Phantasie des Unbewussten — und wurde damit ein genialer
Vorläufer des Surrealismus. E.B.
Werner, Alfred: Etchings and Lithographs of Odilon Redon. Ausst.-Kat, The Art
Institute of Chicago, 1929, S. 12.
Werner, Alfred: The Graphic Works of Odilon Redon. New York, 1969, S. XI u.
Abb. Nr. 46.