Anthonis van Dyck (1599-1641)
Bildnis eines Knaben aus vornehmer Familie (Fragment), um 1623-1625
Öl auf Leinwand
110 X 81 cm
LSK 68.02
Das knapp unterlebensgrosse Bildnis zeigt einen stehenden
Knaben, der eng neben einem offenen Türdurchgang postiert ist.
Der linke Arm ist teilweise verdeckt; lediglich der Daumen, der
ım den Türstock herumfasst, ist sichtbar. Die Figur ist in einer
kokett-verlegenen Pose dargestellt. Das Kind trägt ein glänzen
des Wams und über diesem eine dreifache Kette aus Korallen-
perlen, die Kostbarkeit und Schutzwirkung eines Talismans mit-
sinander verbindet. Links hinter dem Jungen ist bis in Kniehöhe
sine Terrasse sichtbar, auf der Blumentöpfe stehen. Hinter der
niedrigen Terrassenmauer liegt eine abgedunkelte Wasserfläche,
auf der ein helles Segel in der Ferne erkennbar ist. In Ellenbo-
genhöhe des Knaben verläuft ein Küstenstreifen mit dem Genue-
ser Leuchtturm im Hintergrund. Die Himmelspartie ist abge-
dunkelt. Auf der rechten Seite erscheinen auf der dunklen Wand
jediglich herabhängende Tuchpartien und am Bildrand die
Kante eines mit rotem Tuch bedeckten Tisches.
Im Vorzustand des Bildes war die unmittelbar rechts vom Kna-
ben befindliche Tuchpartie zu einer kleinen Fahne umgestaltet,
die scheinbar von dem Jungen gehalten wurde. Aufgrund von
Zrhaltungsmängeln und Übermalungen, aber insbesondere
Jlurch die merkwürdig anmutende Draperie waren Komposition
und Erscheinung des Bildes entstellt. Ihm war keine eindeutige
Autorschaft zugesprochen; es wurde in den Unterlagen der
_iechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung als «ein van
Dyck zugeschriebenes» Werk geführt. Es ist bisher nicht in die
Van-Dyck-Literatur aufgenommen oder im Zusammenhang mit
dieser publiziert worden.
Eine von der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung
in Auftrag gegebene Untersuchung durch das Schweizerische
Institut für Kunstwissenschaft im Juni 1993 erbrachte, dass das
Gemälde vermutlich ein Fragment mit nachträglichen An-
stückungen ist.‘ Dieser Befund und die Identifizierung vieler
Partien der Bildoberfläche als nachträgliche Übermalung for-
derten zu einer eingehenden Analyse des Erscheinungsbildes
auf, Die erneute Durchsicht aufgrund der Untersuchung liess
eine weitgehende Erklärung der unbefriedigenden Partien des
Bildes zu, die als nachträgliche Minderung den durchschim-
mernden Qualitäten der Hauptpartien entgegenstanden. Ein Ver-
gleich mit den Genueser Porträts des jungen van Dyck über-
zeugte von der stilistischen Übereinstimmung in Komposition,
Beleuchtung und Malweise. Besondere Nähe zeigen die Kinder-
bildnisse zwischen 1623 und 1625, wie die Dreiergruppe Tre
fanciulli di Casa Durazzo (135 x 170 cm) oder das Kind in
Weiss (149 X 100 cm) im Palazzo Durazzo-Pallavicini in Genua.
Auch die einzelnen Elemente der Kleidermode sind in den Ge-
nueser Kinderbildern zu finden. Trotz der Verschmutzung er-
schienen die zentralen Porträtpartien von einer so sicheren Aus-
führung, dass diese sich prinzipiell von Nachahmerwerken oder
der kopistischen Manier von Werkstattgehilfen unterschied
In einer weiteren Restaurierung, vorgenommen 1994 von Re-
staurator Heinrich Jakob (Prutting, Oberbayern), wurden die
Übermalungen entfernt. Die Anstückungen auf der rechten
Bildseite erschienen als Teile der ursprünglichen Bildleinwand
und Malschicht, die nach dem Herausschneiden einer Mittelpar-
tie an die Darstellung des Kinderporträts angenäht wurden. Das
Kinderporträt war demnach die linke Ecke eines grösseren
Bildzusammenhanges — vermutlich eine Darstellung mehrerer
Kinder allein oder zusaäfımen mit der Darstellung einer oder
mehrerer erwachsener Personen. Vom ursprünglichen Erschei-
nungsbild der Gesamtkomposition lässt sich keine Vorstellung
gewinnen, doch ist die Zugehörigkeit zu einem Grossformat
nicht auszuschliessen (die ganzfigurigen Genueser Porträts er-
;eichen Höhen zwischen zwei und drei Metern). Verkleinerun-
gen, Fragmentierungen und Übermalungen dieser Art sind an
Porträts des 17. Jahrhunderts wiederholt vorgenommen worden.
CG.
Vgl. Restaurierungsbericht des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft,
Zürich, SIK-Nr. 7.401, 22. 6. 1993.