Martin Disler (*1949)
Ohne Titel, 1990
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Holzschnitt
169 X 98 cm
190 X 118 cm
Bez. u. r.: 2/5 disler 90
LSK 90.15
Die Druckgraphik, mit der sich Martin Disler seit den frühen
achtziger Jahren beschäftigt, steht heute — zur umfangreichen
Werkgruppe angewachsen — gleichwertig neben seinem zeich-
nerischen, malerischen und plastischen (Euvre. Trotz der kom-
plexen technischen Druckverfahren beharrt Disler auch hier auf
der gestischen Schaffensweise, die auf Einflüsse expressiver
Malerei oder der Performance verweist. Disler beruft sich insbe-
sondere auf Pollocks Action Painting,‘ wobei sich sein Interesse
vor allem dem Gestaltungsakt zuwendet. Das impulsive, ekstati-
sche Sichverausgaben im Malakt weicht in der Druckgraphik
einem distanzierteren Erforschen der technischen und künstleri-
schen Möglichkeiten. Die Spannung zwischen der Ausdrucks-
kraft der grossen Geste, welche die Verfahren mildert, sowie der
Fragilität der Zeichnung und des Bildträgers verleihen den Blät-
;ern ihren besonderen Charakter.
Der vorliegende Holzschnitt hat den emotionalen Prozess seiner
Entstehung in sich bewahrt. In ihm äussert sich Bewegung, die
Disler ins Zentrum seines Lebens stellt,” als das zentrale Schaf-
fensprinzip und eigentliche Thema des Künstlers.
Mit energisch geführtem Schneidemesser unternimmt Disler
eine «Abenteuerreise in die Tiefe».” Aus dem tiefschwarzen
Bildgrund lässt er eine beinah lebensgrosse Gestalt aus dem
Dunkel kraftvoll in den Raum des Bildes springen. Einer radio-
graphischen Aufnahme nicht unähnlich, wird der Blick ins Innere
des Körpers gewährt. Das sich gegen den schwarzen Hinter-
grund kontrastreich abhebende Liniengewirr erinnert an ent-
blösste Sehnen, Adern oder Knochensplitter. Der Körper trägt
untrügliche Spuren der Auflösung, von denen die menschliche
Gestalt bei Disler oft gekennzeichnet ist. Dislers Figurationen
sperren sich bewusst einem festlegenden interpretatorischen Zu-
griff. Doch die Assoziationen, die sie hervorrufen, verweisen oft
auf den griechischen Mythos. Denken lassen sie hier an den von
Apollo nach dem musikalischen Wettstreit gehäuteten Flöten-
spieler Marsyas oder an Orpheus, den von den Mänaden aus
dem Gefolge des Dionysos zerrissenen Musiker und Sänger.
Der Hinweis auf den Gegensatz zwischen dem apollinischen
und dionysischen Prinzip drängt sich auf,* zumal der Schaffens-
modus und das Formverhalten Dislers grundsätzlich auf den
dionysischen Pol setzen, was formelhaft und antithetisch zwei
Möglichkeiten künstlerischen Verhaltens bezeichnet. Während
dem Dionysischen, das sich aller Konvention und Norm ent-
zieht, schrankenlose Dynamik, Bewegung und Wandlung, Erre-
gung bis zum Exzess und intuitives Vorgehen zugesprochen
werden, steht das Apollinische für Beharren, Affirmation und
masshaltende Selbstbegrenzung. Zum Wesen des Dionysos, der
im griechischen Mythos als «der Fremde aus dem Innern»
charakterisiert wird,” gehört das Blosslegen des Inneren — dessen,
was sich unter der Oberfläche des Schönen verbirgt: das Trieb-
hafte, die Gefährdungen und Verdrängungen.
Die Aktualität der von ihm belebten Kraft des Dionysischen
liegt für Disler in der Möglichkeit, Erstarrtes und Verfestigtes zu
lösen, sich den titanischen und apollinischen Kräften der tech-
nokratischen Gesellschaft entgegenzustellen, «der Computer-
kultur [...] das modernste Höhlenbewohnerbild» entgegenzu-
halten.* Bewusst wendet sich sein Werk gegen den abgehobenen
Schein des Schönen und die Tendenz zur formelhaften Stilisie-
rung postmoderner Tendenzen. M.S
Vgl. Gespräch zwischen Martin Disler und Marie Helene Cornips. In: Martin Disleı
Zeichnungen 1968-1983. Ausst.-Kat. Museum für Gegenwartskunst, Basel, 1983,
S. 10.
‘ Ebd.
Disler, Martin, zit. nach Kellein, Thomas: Über Martin Disler. In: Kritisches Lexi-
kon der Gegenwartskunst. München, 1991, 5.3.
Auf den Aspekt des Dionysischen im Werk Dislers haben bereits mehrere Autoren
hingewiesen. Vgl. Davvetas, Demosthenes: Erfahrung des «diachronischen Geists»,
und Testori, Giovanni: Der ewige Schnee des Lebens und des Todes, beide in:
Martin Disler. Bilder und Plastiken 1987. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 1988, S. 57 f
bzw. S. 16.
Detienne, Marcel: Dionysos. Göttliche Wildheit. Frankfurt/New York, 1992, S. 24.
Disler, Martin: Bleeding Dancers. In: Davvetas, Demosthenes: Fragments of
Obsession. München, 1985, o. 5.
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