Martin Frommelt (*1933)
An der Tränke II, 1985/86, Blatt 71 aus der Folge Vähtreb-Viehtrieb, 1974-1986
&
Radierung und Kaltnadel
38,2 X 50,5 cm
75,3 X 53 cm
Bez. o. r.: 71, M. fr.
LSK 86.03.71
«Das Lebensgefühl der Menschen und ihrer Tiere, einer Schick-
salsgemeinschaft der Alpen, tritt bildhaft und zugleich abstrakt
nnerhalb eines nur wenig bezeichneten Raumes auf. Das Ge-
fühl, in der weiten Landschaft zu stehen, in einer Hütte, in einem
Stall zu sein. Das Empfinden von Licht und Schatten, Helligkeit
und Dunkel, Ruhe und Bewegung.»' Nach der Apokalypse des
Johannes, die 131 Holzschnitte umfasst, entsteht zwischen 1974
und 1986 mit der graphischen Folge Vähtreb-Viehtrieb — als
Gegenbewegung zu den abstrakten Bildinhalten der Apokalypse
- ein weiterer Grosszyklus von Martin Frommelt, zu dem auch
das vorliegende Blatt gehört. Die Folge Vähtreb besteht aus ins-
gesamt 135 Blättern zum Thema Mensch und Tier, ihrem Auf-
einander-angewiesen-Sein, aber auch ihrer Polarität. Die ver-
schiedenen Stationen des Alpwesens werden innerhalb eines
sowohl räumlichen als auch zeitlichen Ablaufes festgehalten.
Die elf Zyklen unterschiedlicher Länge beschäftigen sich in
ihrer Abfolge mit Vorspann, Hirt und Herde, dem Einnachten,
dem Zorn, dem Leiden, dem Traum, der Tränke, dem Eintreiben,
lem Abend, der Weide und schliesslich der Alpabfahrt. In den
neun Blättern zum Zyklus der Tränke verweist Martin Frommelt
auf ein Moment der Ruhe und des Innehaltens, was in der vor-
‘jegenden Arbeit durch die konzentrische Anordnung der Tiere
um die Tränke besonders deutlich wird. Aus der raumbildenden
Konstellation der Tiere erwächst die Vorstellung von der Tränke,
die — nicht näher bezeichnet — das leicht aus der Bildmitte nach
oben gerückte Zentrum der Darstellung formt. Die Tränke ist
somit ein abstrakter Ort, der zum «schönen Bannkreis» wird,
«wenn die Kühe sich mit ihren dunklen Hornmonden um den
Trog stellen als ein prachtvolles Zeichen.» Isoliert von der Um-
gebung steht die Schar an der Tränke, Landschaft und Ort wer-
den kaum angedeutet, die Tiere rücken in den Mittelpunkt des
Geschehens. Das Gefühl des Vertrauten und Bekannten wird
durch den von Frommelt gewählten Blickpunkt, der den Be-
trachter quasi über die Schulter schauen lässt und damit förm-
lich ins Bild hinein zwingt, noch übersteigert. Nicht allein die
inhaltliche Seite bestimmt den Vähtreb. Die Formensprache
Frommelts schwankt innerhalb des Gesamtwerkes zwischen er-
kennbarer Stofflichkeit und Abstraktion, was auch in diesem
Blatt angedeutet ist, wenn die Kühe links und rechts auf ein Li-
niengeflecht reduziert und nur aus dem Zusammenhang erkenn-
bar scheinen, die Kühe im Vorder- bzw. im Hintergrund hinge-
gen klar ausgeführt sind. Martin Frommelt beschreibt den
Konflikt folgendermassen als Ringen um die Form: «Ich stand
sinmal auf der Alpwiese und zeichnete Vieh bei Föhn. Ganz still
sah ich vor mir diese Körper, die eher zu Lichtgestalten wurden,
zu Lichtkugeln, und trotzdem waren es Kühe. Es gibt Tage, wo
alles am liebsten zur architektonischen Bewegung und Statik
werden möchte — Pfeile, Kreise, Ringe, Vierecke, Keile, Linien,
dann wieder verliere ich mich in der stofflichen Erscheinung, in
der Thematik, im Gegenständlichen.»*
Die Realisierung. als Tiefdruck in Kupfer und die Übertragung
auf die Platte erfolgen bei Martin Frommelt in freier Manier.
Mit komplexem Liniengeflecht entsteht im Helldunkel eine Welt
von Licht und Schatten, von Expression und Materialhaftigkeit,
in der sich gestische Zeichenhaftigkeit und Volumen schaffende
Stofflichkeit gegenüberstehen. AG.
<liemand, Evi: Vähtreb-Viehtrieb. Einführung und Dokumentation zur graphischen
rolge von Martin Frommelt. Buchs, 1986, S.7
Ebd.,, 5.7.
Ebd., S. 17
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