Georges Braque (1882-1963
Nature morte aux raisins. 1925
Rötelkreide
30 X 64 cm
Bez. u. rt. (Rötel): G Braque
LSK 86.02
Zeichnen und Skizzieren hat Braque im allgemeinen als Ar-
beitsmethode angesehen, ihre Resultate nicht als autonome
Kunstwerke betrachtet und nahezu nie signiert. Rötelzeichnun-
gen und Pastelle jedoch hat er seiner Malerei gleichgesetzt.‘ Um
1919 hat der Maler sich bereits mehrmals mit Rötelzeichnungen
beschäftigt.” In dieser Zeit taucht auch das queroblonge Bildfor-
mat auf, das Braque gerne und häufig angewendet hat, um der
Komposition die Möglichkeit zu geben, sich breit und friesartig
auszudehnen. Schon hier findet sich das Motiv der Weintrauben
mit einem Glas. Aber die Früchte sind bereits nicht mehr ein-
deutig zu identifizieren; sie werden zu kugelartigen Formen wie
auf dem vorliegenden Blatt von 1925.* «Verschwommene An-
spielungen auf bekannte Esswaren»“ hat Felix Feneon diese an-
visierte Verallgemeinerung der Form genannt. Gegenüber den
kubistischen Stilleben aber ist die Zeichnung gegenstandstreuer,
Zwischen den in verschiedenen Ebenen aufgebauten Flächen.
sind die Dinge angeordnet: Krüge, ein Kelch, ein Korb mit Trau-
ben, die aber auch Äpfel sein könnten. Auf einem Bild von 1926.
Früchtekorb und Glas,“ dem diese Zeichnung nahesteht, sind
Äpfel und Trauben als solche wahrnehmbar, letztlich aber auch
hier als formale Anordnung im Gesamt der Bildkomposition -
wie auf der Rötelzeichnung — wirksam. «Das Ziel ist nicht, eine
anekdotische Tatsache wiederzugeben, sondern eine Bildtat-
sache [<fait pictural»] herzustellen», schrieb Braque 1917.° Diese
These hat er mit jedem neuen Werk zu unterbauen versucht. Auf
der vorliegenden Zeichnung fliesst alles ineinander: Raum und
Gegenstand sind zusammengeschmolzen. Die Dinge sind in ein
grosszügiges Liniensystem eingebettet, das — in der Strich-
führung zwar sichtbar — sich zu einem dichten Bildgrund zu-
sammenfügt. Elemente der kubistischen Erfahrung schwingen
in der Verschachtelung der Ebenen nach, aber der stärkere Ab-
bildungscharakter weist auf eine Änderung des Stils hin. Doch
bleibt der Gegenstand nur angedeutet. Man ahnt ihn mehr, als
dass man ihn tatsächlich sieht. «Die Andeutung des Sujets ist die
Poetik des Bildes und vermehrt seine plastische Resonanz»,
schrieb Christian Zervos über die Weiterentwicklung des Kubis-
mus bei Braque.’ Zur plastischen Resonanz gesellt sich das Mo-
ment der Ruhe, das Braque nach der kubistischen Phase als
einen unvergleichbaren Qualitätsfaktor in sein Werk einbringt.
Das Querformat unterstützt diese Tendenz in der Zeichnung der
Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung ganz wesent-
lich. Wie in seiner Malerei ist Braque auch in einer bis ins Detail
erarbeiteten Zeichnung der Künstler des Ausgewogenen, der
vollendeten Harmonie. Er führt die grosse Tradition der franzö-
sischen Klassik weiter, deren unantastbare Zuständlichkeit des
Gegenstandes — etwa in den Stilleben von Chardin — ihm ein
mögliches Leitmotiv gewesen sein mag. E.B
Georges Braque. Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, 1988
(Einleitung «Zeichnungen», 0. S.).
+ Vgl. ebd., Nr. 86 u. 87.
? Zürcher, Bernard: Georges Braque. München, 1988, S. 138.
Ebd., S. 139.
Wie Anm. 1, Abb. 36.
Zit. nach Moeller, Magdalena M.: Die Eroberung des Raumes — Braques nach-
kubistisches Schaffen seit 1917. In: Georges Braque. Ausst.-Kat., wie Anm. 1, 5. 25
Zervos, Christian: Georges Braque et le de&veloppement du cubisme. In: Cahiers
4’art (Paris), nos 1/2 (1932), S. 137
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