Volltext: Bestandeskatalog

Pablo Picasso (1881-1973) 
L’atelier, 15.1.1954 
FE: 
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Pinsel in Tusche, laviert 
24 X 32 cm 
Bez. u. 1. (Pinsel in Tusche): Picasso 15.1.54 
Zervos Bd. 16, 182 
LSK 86.01 
Mit der Graphikfolge Le chef-d’euvre inconnu (vgl. Peintre et 
modele tricotant, S. 146) nach Balzacs literarischer Vorlage fin- 
det im Jahre 1927 erstmals das szenische Umfeld des Ateliers 
Eingang in Picassos Themenwelt, Modell, Künstler und das 
eigene Werk verknüpft und diskutiert er auch in den Radierun- 
gen der legendären Suite Vollard (entstanden in den Jahren 1930 
bis 1937). Die motivische Einheit von Maler und Modell bedeu- 
tet für ihn eine kontradiktorische Welt, hin und her pendelnd 
zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, zwischen seinem Stolz und 
seinen Selbstzweifeln.' 
Innerhalb weniger Wochen, zwischen dem 28. November 1953 
ınd dem 3. Februar 1954, erweitert Picasso diesen Themenbe- 
’eich um eine grossartige Variantenreihe von 180 Zeichnungen. 
Der Zyklus entsteht unter dem Eindruck direkter autobiographi- 
scher Bezüge. Tief gekränkt hatte ihn im September zuvor seine 
Partnerin Francgoise Gilot mit den beiden Kindern Claude und 
Paloma verlassen. 
Picasso bleibt einsam in Vallauris zurück. Erstmals wird dem 
nun 73jährigen Künstler sein Alter schmerzlich bewusst. Im 
Umfeld dieser aufwühlenden Lebenssituation entstehen Zeich- 
ıungen voller melancholischer, satirisch-ironischer Selbstrefle- 
xionen über das Alter, die sexuelle Begierde, über Macht und 
Ohnmacht. Die Folge erweist sich als eindrückliche Dokumen- 
tation der Comedie humaine. Kaum fertiggestellt, erregen die 
Zeichnungen grosses Aufsehen. Der Verleger Teriade widmet 
der gesamten Folge sofort eine Ausgabe seiner Zeitschrift 
Verve.” Die Zeichnungen sind seither unter dem Namen Suite 
Verve berühmt geworden. 
Ztwa ein Drittel der Zeichnungen, darunter die vorliegende, 
V’atelier, setzt sich mit dem alten Künstler und dem Modell aus- 
zinander. In kaum mehr verschlüsselter Art hält sich Picasso den 
Spiegel vor. Der Unterschied zu den früheren Ausgestaltungen 
des Themas könnte nicht grösser sein. Die selbstsicheren Dar- 
stellungen (wie etwa in der erwähnten Suite Vollard), in denen 
sich Picasso im vollen Besitze einer mit Frivolitäten nicht 
sparenden Manneskraft wähnt, sind endgültig vorbei. Jetzt führt 
er uns den vom Verfall gekennzeichneten Alten, ja den Greis 
vor, der sich messen muss mit der prallen, sinnlichen Körper- 
lichkeit des jugendlichen Modells. Der Blick des dargestellten 
Malers verdichtet sich zum Zentrum der dramatischen Seelen- 
vorgänge zwischen den beteiligten Figuren. Voyeurismus und 
Arroganz erscheinen im Dialog mit Selbstbescheidung, einer 
zewissen Larmoyanz und Resignation. Alle Blätter sind mit dem 
Tuschpinsel ausgeführt. Sie erinnern in ihrer technischen und 
stilistischen Ausführung an die traditionelle japanische oder 
chinesische Malerei. Die rasche, fast flüchtige Konturierung 
zenügt Picasso. Nur in wenigen Blättern ist der Umriss ver- 
stärkt, erhöhen Lavierungen die räumliche Wirkung. Mit ein- 
fachsten Mitteln gelingen Picasso mit diesen Zeichnungen gran- 
diose Meisterwerke von suggestiver Eindrücklichkeit, voller 
Tragik und Witz. S.A 
Spies, Werner: Picasso — Pastelle, Zeichnungen und Aquarelle. Stuttgart, 1986, S. 37. 
Verve, Revue artistique et litteraire, vol. VIIE (1954), nos 29/30. 
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