Volltext: Liechtensteiner Umweltbericht (1985) (18)

Seite 10 Oktober 1985 Konrad Lorenz sprach von der Atomisierung der Gesellschaft, die in die Einsamkeit mün- det. Jeder will seine eigene Wohnung, sein eigenes Auto: Fluchtweg in die Einsamkeit. Die Zelle der Gesellschaft, die Familie, siecht dahin. Von Sensation zu Sensation jagend, überfüt- tern wir Bauch und Gier, und die Seele schluchzt dabei: die Wohlstandsdepression ist unsere häufigste Krankheit. «Es schreit in mir,» schrieb ein junger Liechtensteiner. Aber die Seele kann nicht lauthals schreien wie die heulenden Derwische von der Disco- szene. Der Schrei der Seele ist nur als Depres- sion zu vernehmen. Wir sind einäugig gewor- den, wie der Zyklop in der griechischen My- thologie: unsere seelischen und geistigen Be- dürfnisse darben dahin, die materiellen klaf- fen ins Unermessliche, Ungesunde. Unsere Lebenseinstellung ist Haben, für das Sein fehlt uns die Zeit. Die Gründe des Scheiterns Unsere Umweltanstrengungen sind immer wieder an drei Hürden gestrauchelt: 1. 
der Trägheit des Konsummenschen (der jedem Verzicht abhold ist) 2. den wirtschaftlichen Sachzwängen 3. den starren Fronten Wollen wir diese Hürden überwinden, müs- sen wir folgende Antworten finden: 1. Wie überwinden wir Trägheit? 2. 
Wie entwickeln wir eine umweltgerechte Wirtschaft? 3. Wie werden Gesprächsgegner zu Ge- sprächspartnern? Die erste Antwort hat mit dem Verhalten zu tun. Gelingt es uns, uns umweltgerecht zu verhalten, gelangen wir in einen umweltge- rechten Zeitgeist. Dieser schliesslich führt aus der umweltfeindlichen in die umweltgerechte Wirtschaft. Das ist das Thema der zweiten Antwort. Unser Zeitgeist ist nicht reif für die Entwicklung einer umweltgerechten Wirtschaft Die dritte Antwort ist die delikateste, weil sich der Umweltschutz selbst in Frage stellen muss. Das tut weh, solange wir geschlossen (nur aus der Sicht des Umweltschutzes) den- ken. Starre Fronten ergeben sich, wenn die Gesprächspartner stiernackig den Vorhang der Taubheit ziehen: man hört nicht mehr zu. Es entsteht dialektische Selbstbefriedigung. Wir wollen uns in die drei Fragen, die eng ineinander verwoben sind, vertiefen. Erkenntnis — Einsicht — Verhalten Zeitgeist Jeder erkennt: Umweltschutz tut bitter not. Wie wir gesehen haben, verhält sich der Mensch — kommt nicht der Leidensdruck dazu — nicht nach seiner Erkenntnis. Soll uns der Leidensdruck eines Massenelends 
zum Um- denken, somit zu Neuverhalten zwingen? Wollen wir dies vermeiden, müssen wir ein Mittel finden, wie wir aus Erkenntnis verän- dertes Verhalten ohne Leidensdruck 
entwickeln  können. Dem Menschen ist glücklicherweise ein Mittel gegeben, diese grösste Herausforderung unse- rer Zeit zu lösen ohne den Leidensdruck des 
Massenelends. Es ist die Gabe, aus Erkennt- nis Einsicht zu gewinnen: Über das Gespräch Als dritten Grund des Scheiterns habe ich die starren Fronten genannt. Die Frage lautet, wie wir aus Gesprächsgegnern Gesprächspart- ner gewinnen. Darüber besteht gesichertes Wissen aus der humanistischen Psychologie. Ich möchte darauf andeutungsweise zu spre- chen kommen. Spielen wir ein Tonband ab, drehen sich die beiden Spulen synchron, und wir hören Mu- sik. Sobald eine Spule den geringsten Wider- stand entgegensetzt, dräut der Bandsalat: das System stürzt ab. Ähnlich ist es mit dem Gespräch. Die beiden Spulen sind die Gesprächspartner. Öffnen wir uns dem Gesprächspartner, wenden wir uns ihm zu, hören wir ihm zu, kommt das Ge- spräch in Fluss. Verschliessen wir uns oder verfallen wir in abwehrende Taubheit, macht der Streitsalat jedes Gespräch zum Macht- kampf. Der Hickhack dreht sich nicht mehr um das Thema und den Konsens, sondern um Sieger und Besiegte. Der Sieger schiesst stets einen Stachel in den Besiegten. Der Stachel lebt Jahrzehnte. So ist auch das nächste Ge- spräch nicht eine Suche von Mensch zu Mensch, sondern die zweite Runde des hierarchischen Geplänkels. Elias Canetti hat diese Zusammenhänge in seinem Buch «Mas- se und Macht» eindrücklich geschildert. Der Vorwurf ergeht an mich selber und an den Umweltschutz als Ganzes: Zuwendung und Zuhören kamen bei uns in der Vergan- genheit zu kurz: Wir haben — dies sage ich bewusst überspitzt — Doktrin über die Umwelt an sich gestellt. Wir haben einseitig Evange- lien verkündet, die zwar dem Inhalt und dem Fernziel nach richtig sind, aber an der Wirk- lichkeit gelebten Lebens vorbeigehen. Wir haben zwischen Fern- und Nahzielen nicht unterschieden. Kein Wunder, haben sich Gesprächsgegner statt Gesprächspartner ergeben. Auch sie ha- ben sich abgewandt, nicht zugehört. In der Tonart des erwähnten Beispiels gesprochen, ist dies aus psychologischer Sicht eine Mitur- sache des Umweltsalates. Nur wenn wir uns Gesprächspartnern zuwenden, ihnen zuhören, gewinnen wir sie für den Umweltschutz. Diese Gesprächsart unterscheidet sich vom bisher Geübten wesentlich: wir denken inter- disziplinär. Nicht nur unser Fach, auch das des andern; nicht nur unser Problem, auch das Problem des andern — denn er hat Proble- me! —; nicht nur unsere Welt, auch die Welt des andern sind jetzt Gesprächsstoff. Beide Gesprächspartner fühlen sich angenommen, es fliesst ein Strom gemeinsamen Lösungswil- lens. Wir haben eingangs festgestellt, wir alle hät- ten die Erkenntnis, Umweltschutz tue not. Somit ist das gemeinsame Fernziel — nämlich eine gesunde Umwelt — unumstritten. Das verlangt von uns eine neue Arbeitsweise. Es gilt, das Gemeinsame festzuschreiben, wie auch den Willen und den eindeutigen Weg, wie wir in kleinen Schritten dahingelangen. So werden wir von Neinsagern zu gesuchten Gesprächspartnern und 
bringen die Forderung und den Weg zu einer gesunden Umwelt den heutigen Gegnern näher. Diese Gesprächsweise hat nicht lineare, sondern potenzierende Auswirkungen. Der Umweltschutz muss eine Sammelbewe- gung des guten Willens werden. Dieser Abschnitt wird bei meinen Freunden nicht eitel Freude auslösen. Freunde zeigen sich dort, wo auf der Suche nach Neuem Unangenehmes erörtert wird. Fehler sind da, um etwas besser zu machen. Die Frage nach Schuldigen ist zweitrangig. (Sokrates: Dem Grossen fällt es leichter, Fehler zuzugeben.) Aufbruch zum Leben Mir gefällt das Motto zum Papstbesuch vom 8. September 1985. Wie selten zuvor haben wir heute eine Chance, weltliches und kirchli- ches Leben zu harmonisieren. Wenn die welt- liche Szene geradezu nach Orientierung lechzt, ist der Kirche Tür und Tor offen für ihre eigentliche. Botschaft: dass das. Leben nach dem Tode wichtiger ist als die kurze Zeit, in der wir unsere Tage verbringen. Die Kirche muss dazu aber die Sprache unse- rer Zeit sprechen. Es ist schon ein Fortschritt, wenn junge Liechtensteiner brennende, je- doch unbequeme Fragen vor dem Eintreffen des Papstes zur «Einstimmung» vortragen dürfen. Es wäre mutiger gewesen, diese Fra- gen in Anwesenheit des Papstes zu stellen. Es wäre noch mutiger, sie während der Messe zu stellen, etwa nach der Kommunion. Vielleicht kommunizierten wir dann wirklich. Wir betreiben Aufbruch zum Leben, wenn wir mehr nach qualitativem denn nach quanti- tativem Konsum streben: den Wohlstand do- siert geniessen, wie er für mein Menschsein förderlich ist. Wenn mir aber die Werbung sagt, drei Schnitzel seien gesünder als zwei, muss ich mich dagegen auflehnen. Die schrecklichste der Krise ist immer die, in der man steckt. Das dünkt uns auch in unse- ren Tagen. Auch vergangene Völker hatten ihre Problemlasten, die ihnen über den Kopf zu wachsen drohten. Aus den Geschichtsbü- chern sind diese Herausforderungen wie Belletristik zu lesen. Auch unsere Kultur- und Umweltkrise wird dereinst so sein. Die Frage ist nur, ob es dann noch Geschichtsbücher geben wird. Oder wird kein kognitives Wesen auf Erden mehr weilen, das noch erzählen könnte, wie die letzte Kultur der Menschheit vor der Herausforderung ihrer Zeit kläglich versagt hat? Ich bleibe Optimist, überzeugt davon, dass wir erkannt haben und dabei sind einzusehen; dass viele das geduldige Tag für Tag Verhalten ändern, hin zu einer harmonischeren Innen- und Aussenwelt. Zusammenfassung Der Umweltschutz ist in eine Sackgasse gera- ten. Nur mit äusserem Umweltschutz kom- men wir nicht weiter. Die innere Umweltkrise hat die äusssere verursacht, nicht umgekehrt. Von innen her, über einen erneuerten Zeit- geist, müssen wir Lösungen suchen. Es gilt, die Trägheit, die Selbstgefälligkeit der Kon- sumgesellschaft zu überwinden und damit in eine Phase umweltgerechten Wirtschaftens
	        

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