Liechtenstein und seine Rechtsordnung
Von Regierungschef-Stellvertreter Dr. Herbert Wille
s handelt sich bei den folgen-
den Ausführungen um eine
Skizze. Ich setze Schwer
punkte, die für die liechten-
» steinische Rechtsordnung
xennzeichnend sind. Bevor ich auf
die heutige Rechtsordnung einge
1e, mache ich zum besseren Ver-
ständnis einen rechtshistorischen
Vorspann.
1. Rechtshistorisches
Ich lasse die Frühgeschichte ausser
acht und beginne mit dem 19.
Jahrhundert. Damals fanden die Aus-
einandersetzungen statt, die nach-
haltigen Einfluss auf den heutigen
Staat Liechtenstein hatten. Massge-
benden Anteil hatte die deutsche
Verfassungsgeschichte. Ihre Aus-
strahlungskraft auf die liechtenstei-
nische Verfassungsentwicklung ist
bis herauf zur heute geltenden
Verfassuna von 1921 spürbar
Liechtenstein nahm im 19. Jahrhun
dert aktiv an den deutschen Verfas-
sungsbestrebungen teil. Zuerst als
Staat im Rheinbund und später im
Deutschen Bund. Gerade dieser
Zeitabschnitt des Deutschen Bundes
beweist, wie weit gespannt die
Verfassungsbewegung in Richtung
Konstitutionalismus in den einzel
nen Bundesstaaten war. Sie machte
auch vor Liechtenstein nicht halt. Sie
weckte ein Volksbewusstsein, das
den Wandel vom Untertan zum
Staatsbürger herbeiführte und der
Untertanenverband zum Staatsver
band werden liess. Es ist die Zeit
spanne des Übergangs vom Abso
lutismus zum Konstitutionalismus
Das Ideengut der Verfassungen deı
Staaten des Deutschen Bundes
machte sich in Liechtenstein breit. E:
ist vor allem die Deutsche National
versammlung, die sichtbare Verfas-
sungsspuren hinterlässt und das Volk
sensibilisiert und ihm verhilft, seine
Rechte gegenüber dem Monarchen
zum Ausdruck zu bringen.
In Geltung steht immer noch die
‘andständische Verfassung von
1818, die in Gemässheit der Bun-
desakte, die die Mitglieder des
Deutschen Bundes verpflichtete, eine
landständische Verfassung einzu-
führen, vom Landesfürsten dem
Lande oktruiert wurde. Der liechten-
steinische Verfassungsrat orientier-
te sich 1848 am Entwurf der Frank-
furter Grundrechte. Der von ihm
ausgearbeitete Grundrechtskatalog
gewährleistete dem Einzelnen
Gleichheit vor dem Gesetz, glei-
chen Zugang zu allen Amtern, Frei-
heit der Person, Schutz vor willkürli-
cher Verhaftung, das Rechtauf einen
zuständigen Richter, Schutz des
Eigentums, das Hausrecht, das Brief
geheimnis, Vereins- und Versamm-
lungsfreiheit, das Bitt- und Beschwer-
derecht, freie Meinungsäusserung,
Freizügigkeit, Auswanderungsfrei-
heit und Gewerbefreiheit sowie die
Selbstverwaltung der Gemeinden,
die Teilnahme an der staatlichen
Willensbildung durch das Wahl-
recht und an der Gerichtsbarkeit
durch Schwurgerichte. Es sind dies
alles Grundrechte, die später in die
heute geltende Verfassung von 1921
Eingang gefunden haben. Eine
Ausnahme bildeten lediglich die
Religions- und Kirchenartikel, die
auf liechtensteinische Verhältnisse
nicht übertragen werden konnten,
denn Liechtenstein war 1848 und
blieb auch 1921 bei der Verfas-
sungsgebung ein konfessionell
geschlossener Staat. Er ist auch -
und das ist bemerkenswert in seiner
Geschichte - von Glaubenskriegen
verschont geblieben. Sichtbares
Ergebnis der Verfassungsbestrebun
gen waren die konstitutionellen Über
gangsbestimmungen von 1849.
Fürst Alois II. gab seine volle Zustim-
mung zu den wichtigsten Teilen des
Verfassungsentwurfs, so zu jenen
Artikeln, die besagen, dass die
höchste Gewalt in Gesetzgebung,
Verwaltung und Rechtssprechung
beim Fürsten und Volke vereint ruhe,
dass der Fürst die Exekutive allein
ausübe, dass der Landesverweser
dem Parlament verantwortlich sei