Tiefblicke, Ausblicke und Aufblicke
‚.. Auch Gaflei ist eine ähnlich hoch-
liegende Alp; das Gasthaus dieser 1500
Meter über Meer liegenden Terrasse
macht sie zu einer Dauersiedelung. Zwi-
schen lockern Gruppen von Lärchen und
Fichten breitet sich die hügelige Weide,
und ihr Herdengeläute ist die Melodie
überm unendlichen Orgelpunkt des Tales
Und wenn es Abend wird und die Tal-
nacht an den Hängen emporzuklimmen
beginnt, dann schauen wir hinab in den
Sternhimmel der Tiefe — oder liegt dort
3ın Meer, das nun zaubrisch aufleuchtet,
schauen wir die nächtlich aufschim-
mernde Kielspur eines Schiffes in tropi-
schen Gewässern? Über uns aber brandet
der reinere, weissdurchblitzte Ozean des
Himmels. Auch drunten glühen Sternbil-
der, trüber ist ihr Licht als das von Adler
und Schwan, Perseus und Kassiopeja und
Bär und Leier, doch auch sie sind Lichtin-
seln im Dunkel, Archipele des Lichtes im
Abgrund der Nacht. Wenn aber der Mond
über den Grat steigt, dann ertrinken die
Archipele im weisseren Licht. Wie Silber-
Schmelzfluss rinnt das Mondmetall über
die Hänge zur Tiefe des Tales, das nun
aicht länger ein Tal, sondern eine Schale
der Verwandlung ist: Licht wird Stoff,
Licht wird Leib, tritt in Erscheinung,
aimmt Gestalt an, gewinnt Körper — aber
was für einen Körper! Ist dies nicht wie
Leibwerdung des Ewig-Verborgenen, nicht
die mystische Materialisation des Ewig-
Unsichtbaren? Und die Macht der Stille
wird übermenschlich, und es ist wie
Wehen jenes Geistes, den wir nicht nen-
aen dürfen, dessen Anhauch jede solche
Nacht zur Weihenacht, zur heiligen Nacht
verklärt ...
So auch auf allen andern Terrassen, deren
Gasthäuser uns Obdach bieten: Silum,
Masescha, Rotenboden und die einzelnen
Weiler von Triesenberg, Jonaboden, Lava-
dina, Steinort, Wangerberg — sie alle
‘eben von diesen Tiefblicken, Ausblicken
und Aufblicken, die sich wandeln mit der
Tages- und Jahreszeit; sie alle zehren von
der Schönheit dieser Berg- und Talwelt.
fLier ist kein Wetter schlecht zu nennen.
Denn auch das Gewölk, wenn es herab-
steigt, talauf- oder talabzieht, ist nur ein
nach unten verlegter Himmel, und was
über uns wir Wolke heissen, schwebt dort
als Nebel an der jenseitigen Talwand hin.
Und hört ihr das leise Brausen aus der
Tiefe? Immer ist es da und durchdringt
alles, hängt sich an jeden Baum, beschlägt
jeden Stein, weht um jedes Haus. Dazu-
stehen und diesem Ton zu lauschen heisst
ıneingenommen werden in ein äonisches
schweigen...
Doch für alle diese Orte wird eine Zeit
kommen, die noch seliger ist als jeder
5ommertag, eindringlicher noch zu
ınserm Herzen spricht, als jede Mond-
der Sternennacht... Es ist Winter, Jahr
m Erlöschen, Erde im Schatten — aber
ıier oben ist Licht, ungeheures Licht.
Jenn Schnee liegt auf Wald und Weide,
Schnee hängt an Wänden und Graten, die
Tiefe aber bleibt unsichtbar, ist zugedeckt
vom schönsten Federbett, das diese Welt
zu verschenken hat: Ein Nebelmeer liegt,
€ nach unserem Standort, vor oder unter
ıns in unerhörtem Glanz. So gross ist die
Macht solcher Tage und so entscheidend
ınsere Entrückung, dass wir derer verges-
sen, die im kalten Schattental seufzen ..
Hermann Hiltbrunner, Fürstentum Liechtenstein,
Zürich, 1946, S. 92-94
Rudolf Schädler (rechts) mit einem Freund vor der Ge-
jenktafel für Ing. Karl Schädler auf Gaflei
ing. Schädler ist der Erbauer des Kurhauses Gaflei und
jes Fürstensteiges.
Seite 30/31: Gastliches Kurhaus Gaflei in den zwanziger
Jahren; am hintersten Tisch sitzen Maria und Dr. Rudolf
Schädler. links von ihnen ihr Sohn Rudolf Schädler