Aufgaben der Familie
Amala und Kamala
{m Oktober 1920 entdeckt ein Missionar nahe bei
dem indischen Dorf Godamuri eine Wolfshöhle,
die ausser von den Wolfseltern und drei jungen
Wölfen noch von zwei kleinen «Ungeheuern»
bewohnt ist, zwei kleinen Mädchen, deren
Gesichter sich hinter einer wirren Mähne verber-
gen. Sie laufen auf allen Vieren, lassen die Zunge
aus dem Mund hängen, heulen heftig und sper-
ren gelegentlich ihre Kiefer drohend auf. Der
Missionar schätzt das Alter der Kinder auf einein-
halb und achteinhalb Jahre. Er nimmt die beiden
mit nach Hause, um sie zu pflegen. Die ältere
nennt er Kamala, die jüngere Amala. Zunächst
sind beide ausgesprochen lichtscheu und tag-
blind, hocken tagsüber reglos vor einer Wand.
Erst nachts erwachen sie aus dieser Erstarrung,
heulen manchmal auf, stöhnen und versuchen
wiederholt zu entfliehen. Flüssigkeit lecken sie
auf. Nahrung nehmen sie mit hängendem Kopfin
hockender Stellung ein. Amala stirbt 1921.
Kamala streckt zehn Monate nach ihrem Auffin-
den zum erstenmal die Hand aus, nach 16 Mona-
ten richtet sie sich zum erstenmal von den Knien
auf, nach vier Jahren lernt sie gehen.
Nach neun Monaten nimmt Kamala erstmals
einen Keks und wird langsam zutraulicher, nach
drei Jahren weint sie, wenn ihre Pflegerin sie ver-
jässt und führt Freudentänze auf. wenn sie wie-
derkommt.
Auch die Intelligenz des Mädchens taucht all-
mählich aus dem Nebel empor. Zunächst besitzt
es nur zwei Wörter, nach vier Jahren verfügt es
über 30 Wörter, erkennt und benennt seine per-
sönlichen Sachen, Am Ende ihres Lebens kann
Kamala sich mit den Arzten, die sie behandeln,
sogar leidlich verständigen. Sie stirbt im Novem-
ber 1929 an einer Nierenentzündung.