II. Abschnitt.
Rätien unter bett Merowingern. 537—768.
1. Das Verhältnis zu den Franken.
Die Rätier kamen nicht durch Eroberung an die Franken.
Dieser Umstand wirkte vorteilhaft auf die Gestaltung des Ver
hältnisses, in das sie zu den neuen Herren traten. Der Ost-
gotenkönig Witiges hatte im Kriege gegen den oströmischen
Kaiser Rätien an den Frankenkönig Theodebert abgetreten,
um ihn als Bundesgenoffen zu gewinnen.
Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Bischof Valen-
tinian zu Chur bei Gründung der neuen Ordnung mitgewirkt
hat. Ausgezeichnet durch Weisheit und strenge Tugend be
nutzte er seine hohe Stellung sicherlich zum Besten seines Vol
kes, wie er bei der Not des langwierigen gotischen Krieges
die Tränen so vieler Unglücklichen trocknete und sie mit himm
lischer und irdischer Speise tröstete. Als er hochbetagt im
Jahre 548 starb, trauerte ganz Rätien um ihn und sein Neffe
Paulinus, der ihm in der bischöflichen Würde folgte, setzte
ihm ein rührendes Denkmal in der Kirche des hl. Luzius, bei
welcher er auch ein Kloster gestiftet hatte.
Die Grafengewalt über Rätien wurde unter dem ftüheren
Titel eines Präses oder Rektor einem fränkischen Geschlechte
übertragen. Sie bestand in der Sorge für die Sicherheit des
Landes und in der Verwaltung des Gerichtes. Diese Würde
kam an das Geschlecht der Viktoriden oder Viktoren, so ge
nannt, weil der erste Inhaber derselben, den man kennt, Viktor
hieß und sie über hundert Jahre bei seinem Hause blieb. Gro
ßenteils bekleideten auch Glieder dieser Familie die bischöfliche
'Würde, was das Ansehen derselben und die Macht nicht we
nig erhöhte. Das römische Recht und Gerichtsverfahren dau
erten fort, wie auch die Curialverfaffung. Die Curialen und
großen Güterbesitzer bildeten den Adel. Der Besitzstand blieb
unverändert. Im übrigen traten die fränkischen Könige in
die Rechte der früheren Herrscher ein und kamen in den Besitz
des Privatgutes, welches die römischen Kaiser und nachher
die gotischen Könige besessen hatten und das nicht unbeträcht
lich war; so die Besitzungen in Balzers und Schaan.