Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2000) (99)

DER 18. JANUAR 1699 - WENDEPUNKT UNSERER GESCHICHTE? / PAUL VOGT Geschichte und schöpferisches Gedächtnis Welche Bedeutung kann eine Jubiläumsfeier heute noch haben? In der Schweiz haben Kulturschaffen- de zum Boykott der 700-Jahrfeier der Eidgenos- senschaft aufgerufen. Soweit kam es in Liechten- stein nicht, aber auch hier bemühte man sich, dem Jubiläumsjahr einen Sinn zugeben, man liess es nicht beim Versuch, die Teilnehmerinnen und Teil- nehmer auf ein Gefühl der Dankbarkeit und der treuen Ergebenheit einzuschwören. Was feiern wir und warum feiern wir den Kaufvertrag von 1699 als Jubiläum? Ein Geschichtsbild, das historische Ereignisse und Konflikte ein- oder ausblenden kann, ein Geschichtsbild, bei dem wir erfahren, wie unsere Vorfahren gelitten haben und was sie alles durchmachen mussten, wie sie in schwierigen Zeiten zusammengestanden sind und wie sich schliesslich durch den Kauf von 1699 die Geschich- te vom Schlechten zum Guten gewendet hat, kann nicht mehr überzeugen. Was geblieben ist, ist das Bedürfnis nach einer Identität als eigener Staat. Wir wollen ein Gemein- schaftserlebnis vermitteln, wir wollen unsere ge- meinsamen Wurzeln, unsere Traditionen betrach- ten, in denen unsere Identität als Liechtensteinerin- nen und Liechtensteiner gründet. Die Jubiläumsfeier soll der Gemeinschaft gleichsam Flügel verleihen, Solidarität und Gemeinsinn fördern, das Gemeinsa- me und Verbindende hervorheben. Die gemeinsam bewältigte Vergangenheit begründet Selbstvertrau- en, gibt Mut und Kraft für die Zukunft. Daran ist nichts auszusetzen, doch dabei darf es nicht bleiben. Peter von Matt hat in seiner Ju- biläumsansprache zur Zweihundertjahrfeier der Helvetik den Begriff «schöpferisches Gedächtnis» verwendet. Er meinte, dass es nicht genügt, wenn Historikerkommissionen die Fakten auf den Usch legen, damit fange die Suche nach dem Sinn und den Zusammenhängen erst an. Dies sei eine Aufga- be für alle, nicht nur für die Historikerinnen und Historiker. Schöpferisches Gedächtnis heisse, aus der Bedrängnis der eigenen Zeit heraus die Ver- gangenheit dieses Staates so für die Gegenwart zu gewinnen, dass sich daraus ein festes Bewusstsein der eigenen Existenz im Strom und Strudel der Ge- schichte ergibt, eine erlebte politische Identität. 
Eignet sich dafür der 18. Januar 1699? Ja und Nein. Das Datum steht für nichts Grandioses, es steht nicht für einen Neubeginn in dem Sinn, dass sich hier bahnbrechende neue Gedanken durchge- setzt hätten. Es ist nicht der Beginn der Moderne, nicht der Beginn des «Volksfürstentums» von 1921, nicht der Beginn des Verfassungsstaats. Der 18. Ja- nuar 1699 weist aber sicher einige wichtige Merk- male eines Neubeginns auf. Das Datum steht zunächst für den Eintritt der Fürsten von Liechten- stein in unsere Landesgeschichte, es erhält da- durch Gewicht, es ist Symbol für einen Neubeginn. Es kommt ein neues Herrscherhaus, mit dessen Namen sich eine gute Zukunft verbinden sollte. Doch diese Sicht ergibt sich erst aus der Rück- schau. Die Zeitgenossen standen im «Strudel der Zeit», für sie waren andere Überlegungen zentral: Ängste und Befürchtungen, auch Misstrauen ge- genüber dem Neuen. Sie spürten nicht den Wunsch nach einem Neuanfang, sondern den Wunsch nach Kontinuität, den Wunsch, die alten Rechte zu wah- ren, sie auch unter neuen Voraussetzungen zur Geltung zu bringen. Parallelen zur heutigen Zeit dürfen gezogen wer- den. Der heutige Staat Liechtenstein wurde nicht an einem einzigen Tag durch einen Gründungsakt geschaffen, sondern in einer Abfolge von Entschei- dungsprozessen, in denen immer wieder um wich- tige Positionen gerungen wurde. Dazu müssen und sollen wir stehen. Wir brauchen diese Konflikte nicht zu verschweigen, bloss weil wir eine har- monische Gesellschaft anstreben. Manche Wendungen in der Geschichte liessen sich in unserm kleinen Land kaum beeinflussen, sie ergaben sich irgendwie wie von selbst, man musste sie - so formulierte es Peter Kaiser - «als Anteil der Weltgeschichte überhaupt hinnehmen».64 62) LLA RA 1/3. siehe auch Schädler (1910). 63) Zur Bedeutung der Huldigung im vorkonstitutionellen Zeitalter Holenstein, S. 283 ff. 64) Kaiser, S. 511. 31
	        

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