Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2000) (99)

So sei die «populäre Legende» (S. 80), dass der Übergang der Herrschaft Schellenberg von den Ho- henemser Grafen an die Fürsten von Liechtenstein 1699 «ein Ende der Unterdrückung» (S. 17) zur Folge gehabt hätte, auch in diesem Kontext zu se- hen. Tatsächlich aber habe der Fürst von Liechten- stein 1719 mit einer neuen Dienstinstruktion den Absolutismus eingeführt und die alten Volksrechte beschnitten. Aber weil die regierenden Fürsten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich anfin- gen, sich um das Volkswohl zu kümmern, und weil es seit damals auch wirklich langsam aufwärts ging in Liechtenstein, würde das unerfreuliche Faktum, dass der fürstliche Absolutismus vorerst die «mo- ralische, politische und kulturelle Entwicklung die- ses Landstrichs nicht nur verzögerte, sondern an der Wurzel abtötete» (S. 83), einfach ausgeblendet. So verdränge und verkläre man die geschichtliche Wirklichkeit. VOM BEGRIFF «UNTERLAND» Der Slogan «300 Jahre Liechtensteiner Unterland» wird vom Autor radikal in Frage gestellt; gerade der Begriff «Unterland» sei viel jüngeren Datums: Weder Joseph Schuppler noch Peter Kaiser ver- wendeten den Begriff «Unterland» für die Land- schaft respektive Herrschaft Schellenberg (vgl. S. 22). Der Terminus «Unterland» setze zudem vor- aus, dass es auch ein «Oberland» gebe. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die erste konstitutionelle Verfassung von 1862 dem Volk lan- desweit gewisse politische Mitbestimmungsrechte einräumte, habe sich der Begriff «Unterland» durch- gesetzt: «Das Aufgehen der ehemaligen Herrschaft Schellenberg ... im Staat Liechtenstein war in dem Augenblick vollzogen, als die 
Bezeichnung Unter- land ... geläufig wurde» (S. 24). Unausgesprochen verneint Peter Gilgen damit auch die Idee, es habe schon vor 300 respektive 280 Jahren in der Be- völkerung ein gesamt-liechtensteinisches Staatsbe- wusstsein gegeben. 
AUFMÜPFIGES, DOPPELBÖDIGES, ARCHAISCHES Der Begriff «Unterland» töne an, dass diese Land- schaft die kleinere, «weniger gehobene, weniger gebildete» von zwei Regionen sei. Staatliche Behör- den, die Hauptsitze der Banken, der grössere Teil der Industrie und der kulturellen Einrichtungen seien zwar im Oberland angesiedelt, doch könne die untere Landschaft durchaus eine eigenständige Identität und sogar eine Tradition der Aufmüpfig- keit für sich reklamieren. So kämen auch die gröss- ten politischen Denker Liechtensteins, die sich für die Rechte des Volkes eingesetzt hätten, aus dem Unterland, zum Beispiel der erwähnte Peter Kaiser und Franz Joseph Oehri. Interessante Hinweise lie- fere hier auch der Unterländer Dialekt: So heisse der Stein zwar «Schtöö» im Dialekt, doch Liechten- stein heisse im Unterländer Dialekt nicht «Liachta- schtöö», sondern - etwas gestelzt - «Liachtaschtein». Es sei, «als ob der Name des Fürstengeschlechts ... bis zum heutigen Tag in dieser Sprache nicht ganz heimisch geworden wäre» (S. 27). Jede Bewohnerin und jeder Bewohner dieser Landschaft trage - so der Autor - zudem auch ein «Unterland» in der eigenen Seele. Er verweist auf Wallfahrten und Prozessionen als vom Alltag ent- rückte Rituale, die dazu dienten, das andere «Unte- re» in Schach zu halten: Heimlich brodelnde Lei- denschaften, die dann insgeheim befriedigt würden, zum Beispiel spätabends in einer Bar am Dorfrand, wo es ausländische nackte Mädchen gibt» (S. 31). Peter Gilgen sieht darin «das Inhumane, Prähuma- ne des Unterlands [als] vielleicht die letzte Erinne- rung an eine humanere Hoffnung (weil es noch nicht darüber hinaus ist), die andernorts von den Strömen des Verkehrs und des Kapitals schon überrollt scheint, während das Unterschwellige hier hin und wieder aufstösst» (S. 31 f.). Es sei dies ein «letztes Aufleuchten eines vormodernen Zu- standes, wie er sich [auch] in den glotzenden schwar- zen Augen der Kühe spiegelt» - Ereignisse wie das Schlachten eines Tieres sind ja auch erst vor kur- zem aus dem Dorf verbannt und an den Landes- schlachthof draussen im Riet delegiert worden. Dies zum leisen Bedauern des Autors. 262
	        

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