Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1997) (94)

Umfang der Arbeit ZUR THEORIE DES SPRACHWANDELS In der modernen Dialektologie wird davon ausge- gangen, dass Sprache keine homogene Struktur hat, sondern heterogen ist. Die Heterogenität, d. h., das Vorhandensein von Regelhaftigkeiten und Ab- weichungen, gehört zum Wesen natürlicher Spra- chen, denn nur «die Sprache, die sich wandelt, ist die wirkliche Sprache in ihrer konkreten Exi- stenz.»13 Die Sprache, die sich nicht wandelt, ist die abstrakte Sprache, so wie sie in Grammatiken und Wörterbüchern zu finden ist. In einer gesproche- nen Sprache tritt also Variation auf, d. h., es gibt immer wieder ein Nebeneinander von zwei oder mehr Formen, um dasselbe auszudrücken. «Von Sprachwandel kann erst gesprochen wer- den, wenn dieselbe Veränderung im Sprachbesitz mehrerer Individuen eingetreten ist und von nun an ihre Sprachproduktion bestimmt.»14 Produziert ein Einzelsprecher ein neues sprachliches Faktum, muss dies also noch nicht zum Sprachwandel führen, es handelt sich hier lediglich um eine (tau- sendfach vorkommende) Innovation. Innovationen können allerdings zu Neuerungen werden, wenn sie von anderen Sprechern gehört und in ihren Sprachbesitz übernommen werden. Erst die Neue- rung ist eine Einheit im Sprachwandelprozess, während die Innovation nur eine individuelle, punktuelle Produktion einer neuen sprachlichen Form darstellt.15 Die Untersuchung versucht sprachliche Wandel- vorgänge festzustellen, sie muss also unterscheiden zwischen auftretenden Innovationen und wirkli- chen Neuerungen. DER VERLAUF EINES SPRACHLICHEN WANDELS Sprachwandel ist ein Prozess, der damit beginnt, dass eine Sprache nach der Meinung einiger ihrer Sprecher ihren Zweck nicht mehr adäquat erfüllt. Die Sprecher schaffen ein neues Sprachfaktum, um die Funktionalität der Sprache wieder herzustellen. Das neue Faktum, die Neuerung, breitet sich all-mählich 
in der Sprachgemeinschaft aus, indem im- mer mehr Sprecher die Neuerung übernehmen. Für eine kürzere oder längere Zeit kommen neben- einander die alte und die neue Form vor. Der Prozess des Ersetzens einer Form durch eine neue kann also in drei Etappen dargestellt werden. Beim Wandel von Lismer zu Pullover bei- spielsweise fügt jeder übernehmende Sprecher sei- nem Lexikon zum Wort Lismer zusätzlich das Wort Pullover hinzu. Der Sprecher besitzt nun zwei Mög- lichkeiten, dasselbe auszudrücken. Im weiteren Verlauf kann der ursprüngliche Ausdruck verloren gehen und durch den neuen vollständig ersetzt werden:16 kategorisches variables kategorisches Stadium 1 Stadium Stadium 2 Lismer Lismer/ Pullover Pullover Wenn das neue Faktum bei allen Sprechern das alte verdrängt hat und dieses verschwindet, hat der Wandel extensive Allgemeinheit erlangt.17 In der vorliegenden Arbeit werden allerdings keine lexikalischen, sondern phonologische und mor- phologische Wandelvorgänge untersucht. Um sol- che beschreiben zu können, muss zum Kriterium der Erlangung extensiver Allgemeinheit zusätzlich jenes der Erlangung intensiver Allgemeinheit berücksichtigt werden. Es handelt sich erst dann um einen wirklichen Wandel, wenn der Ersatz in allen Ausdrucksstrukturen, wo das Phonem/Mor- phem vorkommt, vollzogen wird.18 Ein Wandel be- ginnt dabei in natürlicher lautlicher Umgebung und schreitet fort zu weniger natürlichen Umgebungen. Der Verlauf eines Wandels kann so skizziert werden, dass die übernehmenden Sprecher den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Sprachfaktum als variable Regel abstrahieren, was einen ständigen Vergleich der beiden Lautungen ermöglicht. Nach W. Haas lassen zahlreiche Beob- achtungen darauf schliessen, «...dass die Sprecher dazu neigen, eine einfachere Regel zu rekonstru- ieren, als jene, die bei der Produktion des Roh- materials) tatsächlich zur Anwendung kam.»19 Rekonstruktion einer einfacheren Regel, also Ver- lcS
	        

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