Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1997) (94)

DR. MED. ALBERT SCHÄDLER 1848 BIS 1922 RUDOLF RHEINBERGER Diese Art der Krankenunterstützung war wesent- lich auf der Grundlage der Solidarität aufgebaut. Es ist wohl nicht von ungefähr, dass die ersten Kran- kenkassen in Liechtenstein in den Industriebetrie- ben entstanden, dort, wo ein Kollektiv sich zu ge- genseitiger Hilfe zusammenschliessen konnte. Die Anregung dazu ging zwar von den Fabriksherren aus, doch mussten die Prämienbeiträge zur Gänze von den Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebracht werden. Diese überwachten sich auch gegenseitig, damit nicht der eine oder andere die Kassenlei- stungen übermässig oder ungerechtfertigt in An- spruch nahm und so die Solidarität durchbrach. Erst nach dem 1852 abgeschlossenen Zollver- trag mit Österreich gab es einige zaghafte Versu- che, kleinere Industriebetriebe im Land anzusie- deln. Im Jahre 1861 wurde dann die erste Baumwollweberei im Mühleholz in Vaduz in Be- trieb genommen. Weitere Textilbetriebe folgten, 1873 die Weberei in Triesen und 1882 die Spinne- rei in Vaduz. Die staubige Arbeit in den baumwollverarbei- tenden Fabriken brachte erhebliche gesundheitli- che Belastungen, zumal die tägliche Arbeitszeit bis zum Jahre 1870 13 Stunden und von da an bis 1888 noch zwölf Stunden betrug.101 Ein trauriges Kapitel bildete im 19. Jahrhundert die Kinderarbeit als Folge der unsäglichen Armut, und es dauerte Jahrzehnte, bis es gelang, diese völlig auszuschal- ten. Mit der Gewerbeordnung vom 16. Oktober 1865102 wurde die Kinderarbeit zwar formell verbo- ten, doch waren Ausnahmen möglich, da es sich um ein «Soll-Gesetz» handelte (§46). Solche Aus- nahmen waren bis in den Anfang des 20. Jahrhun- derts noch gang und gäbe. Nach derselben Gewerbeordnung vom Jahre 1865 hatten die Arbeiter, die durch Krankheit oder Unfall arbeitsunfähig geworden waren, keinerlei Anspruch auf Entschädigung für den erlittenen Lohnausfall.103 So wurde denn im Jahre 1870 in der Mechani- schen Weberei in Vaduz die 
erste Betriebskranken- kasse gegründet. Der Beitrag für den Arbeiter be- trug 1 Prozent des Lohnes und die Kasse bezahlte über drei Monate ein Taggeld von 50 Prozent des 
Lohnes sowie die Arztkosten. Bald aber wurde die Leistungspflicht für das Taggeld auf sechs Wochen reduziert und der Prämienbeitrag auf zwei Prozent des Verdienstes erhöht. Auch die weiteren in der Folge in Triesen und Vaduz gegründeten Textilfa- briken führten bald fabrikeigene Betriebskranken- kassen ein, deren Leistungen und Prämiensätze in etwa denen der Mechanischen Weberei in Vaduz entsprachen.104 Erst das im Jahr 1910 erlassene neue Gewerbegesetz105 brachte ein Kassenobligato- rium nicht nur für Fabrikarbeiter, sondern auch für alle anderen Arbeitnehmer. Als Mindestleistungen wurden freie ärztliche Behandlung und ein Kran- kengeld von 50 Prozent des Lohnes vorgeschrie- ben. Einzelne Betriebskrankenkassen hielten sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als selbständige Organisationen. Weitgehend parallel mit der Entwicklung der Krankenkassen verlief seit 1886 auch jene der Un- fallversicherungen. Der Vaduzer Arzt und Landes- physikus Dr. Wilhelm Schlegel richtete im Jahre 1886 erstmals ein Schreiben an die Regierung, worin er für die Textilbetriebe den Abschluss einer Unfallversicherung forderte.106 Im Gegensatz zu den Krankenkassen wurden die Prämien für die Unfallversicherungen von den Arbeitgebern bezahlt. Eine ganz andere Strukturform hatte von An- fang an 
der «Allgemeine Kranken-Unterstützungs- verein für Liechtenstein». Er war der erste Vorläu- fer der freiwilligen Krankenkassen im Lande. Im Januar 1894 fand in Schaan eine Versammlung statt, welche die Gründung einer «Arbeiter-Kran- kenkasse» zum Ziele hatte.107 Es wurde ein Komi- 99) Siehe S. 125. 100) Hoch, Sozialversicherungsrecht, S. 13. 101) Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 282/83. 102) LGB1. 1865 Nr. 9. 103) LGB1. 1865 Nr. 9, § 45. 104) Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 289/292. 105) LGB1. 1910 Nr. 3. 106) Hoch, Sozialversicherungsrecht, S. 25. 107) LVolksblatt 1894 Nr. 4. 131
	        

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