Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1995) (93)

FRAUENARBEIT IN LIECHTENSTEIN 1924 BIS 1939 FABRIKARBEITERINNEN / CLAUDIA HEEB-FLECK Frauen- und Männerlöhnen komme,227 für Liech- tenstein zutrifft, lässt sich nicht eindeutig beant- worten. Die noch sehr krassen Unterschiede im Lohnniveau gegen Ende der Zwischenkriegszeit lassen jedoch eher vermuten, dass es in Liechten- stein erst mit der Überwindung der Krise zu einem grösseren Angleichungsschub zwischen Frauen- und Männerlöhnen kam. Wohl protestierten der LAV und auch einzelne Arbeiterinnen gegen die tiefen Löhne in der Zwi- schenkriegszeit,228 die Forderung nach Anglei- chung der Frauenlöhne an die Männerlöhne wurde jedoch - soweit ersichtlich - nie gestellt. Männerlöhne waren als Familienlöhne, Frauen- löhne als Zusatzverdienst für die Familie der ledi- gen Arbeiterin, in Liechtenstein wohl seltener auch der verheirateten Arbeiterin, konzipiert und in die- sem Sinne sowohl von Frauen als auch von Män- nern akzeptiert. Auf die Frage, ob Männer mehr verdienten als Frauen, antwortete K.H.: «Ja, die haben schon mehr gehabt - sonst hätten sie ja keine Familie un- terhalten können.»229 Ein arbeitsloser Mann schilderte seine Situation 1922 folgendermassen: «Ich bin schon seit Ende Oktober v. J. arbeitslos und deshalb in einer sehr schwierigen Lage. Meine Frau ist in der Spinnerei Jenny, Spoerry & Cie in Vaduz beschäftigt, deren Verdienst reicht aber selbstverständlich zur Unter- haltung des Haushaltes nicht aus,™ zumal sie an- lässlich unserer Verehelichung gezwungen war einen grösseren Vorschuss zu beziehen und dieser Vorschuss ihr nun ratenweise vom Lohne abgezo- gen wird.»231 Ein Blick auf die Lebenshaltungs- kosten bestätigt dies «Selbstverständliche». Mit dem liechtensteinisch-schweizerischen Zollver- trag von 1924 fand eine Anpassung der Preise an die schweizerischen Verhältnisse statt, was für Liechtenstein ein Ansteigen der Lebenshaltungs- kosten um 15 bis 20 Prozent zur Folge hatte.232 Ob den damals von allen Seiten der Arbeitneh- merinnen laut werdenden Forderungen nach An- passung der Löhne Rechnung getragen wurde, bleibt fraglich. 
Ein Kilo Kaffee kostete im März 1924 in Vaduz sfr. 3.80, ein Kilo Zucker sfr. 1.20, ein Kilo Mehl 70 Rappen, ein Kilo Butter sfr. 6.40. Für die Woh- nung mussten in Eschen 1924 sfr. 480 jährlich ge- rechnet werden.233 Eine Arbeiterin der Rheintali- schen Bekleidungswerke AG konnte sich also mit ihrem Tagesverdienst nicht einmal ein Kilo Kaffee kaufen.234 Wie wenig drei bis vier Franken Tages- lohn waren, darauf deutet auch ein Vorschlag zur Einführung eines freiwilligen Arbeitsdienstes von 1933 hin. Darin wird davon ausgegangen, dass mit drei bis vier Franken die Lebenskosten gedeckt 220) LEA, 1933, HF/137, Nr. 354, Schreiben der Regierung an das Arbeitsamt in Vaduz. 221) LV, 1934, Nr. 143, «Gewerbliches», Hervorhebung von mir. Der Artikel schliesst mit der Aufforderung an die Regierung, nach dem Rechten zu sehen und der Ermahnung, in solchen Fällen mit einer Einbürgerung vorsichtig zu sein, «wenn östliche Manieren nicht zu stark in unserem Lande verbreitet werden sollen». 222) Jenny, Spoerry, Triesen, Fabrikakten 1911-1922, Nr. 2306. 223) LAV, Dokumente, 1935-40, Abschrift über die «Arbeiterkontrol- le» vom 22. April 1938. 224) 40 Jahre LAV, S. 33. Vgl.: 50 Jahre LAV, S. 10. 225) 40 Jahre LAV, S. 34. 226) LANV, Ältere Dokumente 1920-60, Arbeitsvertrag zwischen der Industrickammer (Sektion Metallindustrie) einerseits und dem liecht. Arbeiterverband (Sektion Metallindustrie Arbeiter) andererseits, Art. 3, Arbeitslöhne Der Kollektivvertrag wurde erst am 11. Mai 1949 unterzeichnet. 227) Vgl. z.B.: Kuczynski, S. 224; Hardach, S. 216; Jurczyk, S. 20f. 228) LAV, Dokumente, 1935-40, Protokoll der Sitzung des Arbeits- amtausschusses vom 9. August 1938. Jenny, Spoerry, Triesen, Fabrikakten 1911-1922, Nr. 2306. LAV, Briefe und Protokolle, 1930-36, Eingabe wegen Lohnabzug, Vaduz, 20. Februar 1933. LLA, 1933, RF/137, Nr. 354, Vorsprache einer Frau beim Arbeitsamt wegen der tiefen Löhne in der Ramco AG. 229) Anhang, Interview mit K.H., S. 113. 230) Hervorhebung von mir. 231) LLA, 1922, RE/573 z.Z. 13. 232) LIA 1924, Z. 36/809. 233) LIA, 1924, Z. 36/809 In Eschen zum Beispiel waren die Le- bensmittelpreise etwas tiefer: 1 kg Kaffee - sfr. 2.60, 1 kg Zucker - sfr. 1.15, 1 kg Mehl - sfr. 0.65 und 1 kg Butter - sfr. 5.60. 234) Bei Annahme eines nicht sinkenden Kaffeepreises zwischen 1924 und 1938. 57
	        

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