Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1995) (93)

werden, und nicht wenige Examinatoren und Prüf- linge werden sofort sagen, dass er die Aufnahme- prüfung als Mitglied des Royal College ofOrganists nicht bestehen würde. - Es ist jetzt nicht notwen- dig, zu untersuchen, ob dieser hochangesehene Komponist an zwei Arten des Kontrapunkts glaubt, diejenigen des Mittelalters und diejenigen einer natürlicheren (und deswegen weniger künstlichen) Art, welche den heutigen Erfordernissen besser an- gepasst erscheint. Es stellt sich aber die folgende sehr wichtige Frage: Sollen junge Musiker dahin gebracht werden, bei ihren Kontrapunktübungen eine Zwangsjacke von altmodischem Stoff zu tra- gen? Soll ihr natürliches Wachstum gehemmt wer- den durch solch ein vorsintflutliches Vorgehen? Gibt es im Wortschatz des Kontrapunktikers das Wort <Fortschritt> nicht? Die folgenden Beispiele aus der Feder von Professor Rheinberger gehen ein gutes Stück voran in Richtung einer befriedigende!! Antwort auf diese Frage. - Es mag nicht ohne In- teresse sein, zu erwähnen, dass ein berühmter Doktor der Musik, als er die beigefügten Beispiele im Manuskript sah, ausrief: <Das ist nicht Kontra- punkt; es ist Musik!»>23 
Rheinberger sah für seinen Unterricht klar die Grenzen von reinen Kontrapunktübungen. Parker soll einmal bis zum allerletzten Moment gewartet haben, um seine Aufgabe für Rheinbergers Lektion fertigzustellen, und er habe gerade am warmen Ofen im Unterrichtsraum die Tinte seiner Arbeit getrocknet, als der Lehrer hereinkam. Als Rhein- berger ihn sah, äusserte er, wahrscheinlich sei die Übung auch ohne dies schon trocken genug.24 Rheinbergers Strenge und gleichzeitige Freizügig- keit scheinen sich auf den ersten Blick zu wider- sprechen; aber sie sind ein Zeichen dafür, dass Rheinberger die Grenzen seiner eigenen Rolle im Lernprozess genau kannte. Wie alle grossen Lehrer scheint er sich darüber im klaren gewesen zu sein, dass seine eigene Aufgabe mehr umfasste als ledig- lich Informationen zu vermitteln; seine Wirkung als Lehrer beruhte darauf, die Möglichkeiten zu ken- nen, mit welchen er seine Schüler dazu bringen konnte, ihre eigene Stimme zu finden und dabei über die i h m eigenen Werte und Ziele hinauszu- gehen. Im Falle seiner besten amerikanischen Stu- denten gelang dies Rheinberger auf bewunderns- werte Weise. 23) Der gesamte Briefwechsel ist abgedruckt in: Briefe und Doku- mente, Band VII, S. 95-101. 24) H.E.Krehbiel, Biographische Skizze in: Metropolitan Magazine vom 11. Juni 1911, zit. bei Kearns, S. 8-9. 330
	        

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