Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1994) (92)

die der Zeit gemäss wäre.»75 Die Architektur der Wiener Secession entwickelte sich in zwei Richtun- gen, die trotz mannigfaltiger Verbindung sehr un- terschiedliche Ziele verfolgten. Während die Grup- pe um Otto Wagner sich um eine klare geometri- sche Gestaltung des Ornaments und um eine von stereometrischen Formen bestimmte Bauweise be- mühte, schloss sich die andere Richtung stellen- weise nahtlos an den Späthistorismus an. Es kommt «zur Aufnahme von weich schwingenden, kurvilinearen, floral geprägten Jugendstilformen, welchen die aus dem Neobarock entwickelten De- korationselemente grosse Annäherungsbereit- schaft entgegenbringen. Dieser Jugendstil hat mit dem Späthistorismus die künstlerische Vorstellung vom Bau gemeinsam, der als voluminöses Gebilde empfunden und aus kubischen Blöcken und Zylin- dern aufgebaut wird, dessen Oberfläche jedoch er- weichbar, knetbar und von dekorativen Elementen bevölkert erscheint... Für den Sakralbau, dem mit- telalterliche Anregungen wesensgemässer erschei- nen, dominiert die Neuromanik oder der klassizi- stische Zentralbau aus den gleichen künstlerischen Vorstellungen heraus. Abgerundete Ecken und kuppelige Bekrönungen, weich modellierte Fassa- den, welche die Balkone und Erker als Motivierung ihrer immanenten Bewegung benutzen, sind dem Jugendstil ebenso eigentümlich wie dem Späthisto- rismus, so dass sich beim Changieren der Orna- mentik eine Trennung beider Richtungen keines- falls eindeutig durchführen lässt. Der <modische> Charakter des Jugendstiles war den Vertretern des Späthistorismus durchaus eingängig und wurde von ihnen als legitime Weiterentwicklung betrach- tet.»76 «Die Eigentümlichkeiten, welche den Späthistoris- mus vom strengen Historismus scheiden, liegen vor allem darin, dass die Dekoration der Fassaden eine immer reichere, aber auch immer individualisti- schere Form annimmt.»77 Das Formenrepertoire kann «historisierend sein oder Ornamente des Jugendstiles zeigen, auf jeden Fall ergibt sich beim Zusammenschluss solcher Fassaden... in der optischen Verkürzung kein strenger, linear gruppierter Aufbau, sondern ein 
bewegtes Flimmern - eine Eigentümlichkeit, die dem Impressionismus entspricht, jener Richtung der Malerei, deren Hauptvertreter der gleichen Ge- burtenlage der Vierzigerjahre angehören wie die späthistoristischen Architekten. Dazu kommt, dass an Stelle der flächigen Begrenzung der Baublöcke nun durch ausbuchtende Erker und Balkone, durch häufige Verwendung von Eckrondellen mit kuppel- artiger Bedachung, durch Altane und abgerundete Ecken der Bau in seiner plastischen Körperlichkeit in Erscheinung tritt, während er zuvor als ein von dekorierten Ebenen begrenztes prismatisches Ge- bilde charakterisiert wurde.»78 Beim Späthistorismus handelte es sich vielfach um eine künstlerische Auffassung, «die primär von der Fassadenwirkung ausgeht, während die Grundriss- aufteilung und Raumgestaltung darunter litt».79 Ein Zeitgenosse, Franz Pfeiffer, schrieb 1899: «Wenn man die konstruktiven Widersinnigkeiten, welche diese Fassaden zeigen, wirklich ausgeführt hätte, wäre der unmittelbare Einsturz die Folge gewe- sen.»80 Trotzdem sieht Renate Wagner-Rieger in erster Li- nie die künstlerischen Aspekte: «Die reichen, deko- rativ verteilten Detailformen, meist des 16. und des 17. Jahrhunderts, die durch keine grosse Ordnung gebändigt werden, boten dem impressionisti- schem Kunstwollen reiche Möglichkeiten.»81 Dem Späthistorismus wurde - wie es auch den Spätformen früherer Stile ergangen ist - Verwilde- rung und Dekadenz angelastet.82 Ergänzend noch eine Bemerkung Onsells zum Ju- gendstil: «Scheinbar Aufbruch einer Moderne, ist er (der Jugendstil, Anm. d. Verf.) im Grunde reak- tionär, eine Forderung zur Rückkehr zu den reinen Quellen schöpferischen Tuns, zu einem goldenen Zeitalter des Machens. In Wahrheit ist der neue Stil aber gar kein Bruch mit dem Historismus, sondern vielmehr dessen krönender Abschluss, in allem sein Kind. Nicht nur, weil die Praxis, nach Formen- schätzen zu arbeiten, von den kleineren Architek- ten beibehalten wird - die Verleger, die bisher Vor- lagenwerke mit traditioneller Architektur heraus- brachten, editieren jetzt <Moderne Bauformen> zum Abzeichnen - sondern auch, weil man diese 318
	        

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