Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1994) (92)

GUSTAV RITTER VON NEUMANN FLORIN FRICK Der Historismus in der Wiener Architekturentwicklung Der Historismus ist als eine nahezu weltweite Be- wegung des letzten Jahrhunderts zu betrachten, die je nach Kulturraum eine eigene Entwicklung nahm und entsprechend auch zu verschiedenen Bezeichnungen kam. Für das Werk Gustav von Neumanns wie auch für die wenigen historisti- schen Bauten in Liechtenstein war die Wiener Ar- chitekturszene massgebend. Renate Wagner-Rieger fasst die Entwicklung des Wiener Historismus in drei Phasen zusammen: - den romantischen Historismus, etwa von 1830 bis 1860. Diese Strömung ist jedoch bei verschie- denen Bauwerken bis ins 20. Jahrhundert spür- bar, - der strenge Historismus, etwa von 1850 bis 1880. Auch diese Phase darf zeitlich nicht zu eng gesehen werden, da der Begriff «streng» in er- ster Linie die Haltung zur Geschichte ausdrückt, welche gelegentlich individuell verschieden war, - der Späthistorismus, etwa 1880 bis 1914. Paral- lel dazu war die Wiener Secession wirksam, die sich mit ersterem in regem Wechselspiel befand. Diese Einteilung wird im folgenden übernommen, um einen Grobraster zu erhalten. Die verschiede- nen Unterepochen werden in Form von Exzerpten aus dem genannten Werk von Renate Wagner-Rie- ger dargestellt. ROMANTISCHER HISTORISMUS, ETWA 1830 RIS 1860 «Der romantische Historismus wächst ohne schar- fe Grenze aus dem kubischen Stil heraus, mit dem er die Grosszügigkeit und regelmässige Weitläufig- keit der Projekte, die symmetrischen Grundrisslö- sungen und ein mächtiges Bauvolumen gemeinsam hat; auch die monotone Wiederholung gleichartiger Gliederungsprinzipien, analog geformte Achsen und ähnliches bleiben für die jüngere Stilrichtung zunächst typisch. Neu ist dagegen die gehäufte Ver- wendung architektonischer und dekorativer For- men aus dem Repertoire der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Architektur, vor allem jener Ita-liens. 
Es wäre auch möglich, diese Phase als <histo- risierenden Klassizismus) zu bezeichnen».62 «Bestand in Wien noch immer eine sehr starke Bin- dung an die Anschauungen des Klassizismus und die Kunsttheorien Durands, so mischen sich doch bei den jüngeren Hauptmeistern des romantischen Historismus zu dieser rationalen Haltung immer stärker Versuche, im Dekorativen eine Synthese vergangener Formmittel zu erreichen. Mit Aus- nahme von J. G. Müller (1822 bis 1849) reichen die im zweiten Jahrzehnt geborenen Künstler mit ih- ren Werken an den strengen Historismus heran; sie streben zur übergeordneten Einheit im Kunstwerk, zum <Gesamtkunstwerk)... Der romantische Histo- rismus weist einen Formwandel auf, den man wohl als Stilablauf bezeichnen kann. Im grossen gesehen bildet er eine Etappe auf dem Wege vom grossfor- migen, glatte Flächen bevorzugenden kubischen Stil des Spätklassizismus zu den reichen, malerisch belebten Formen des strengen Historismus.»63 «Der romantische Zug dieser Phase kommt aber nicht nur im Rückblick auf die eigene Vergangen- heit, auf das eigene Mittelalter zur Geltung, son- dern auch in dem Bestreben, aus den Leistungen der abendländischen Kunstentwicklung vom Aus- gang des Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahr- hunderts - die man als eine grosse Einheit auf- fasste - eine repräsentative Synthese zu ziehen. In selbständiger Auseinandersetzung mit den histori- schen Vorbildern suchte man in schöpferischer Subjektivität originelle Lösungen zu schaffen. Die- ser Stilsynkretismus (kritiklose Vermischung stili- stischer Elemente, Anm. d. Verf.) erblickt in der 59) a.a.O., S. 7f. 60) Habermas, Jürgen: Einleitung: Konstanz, Wechsel, Modernität. In: dtv-Atlas zur Baukunst. Baugeschichte von der Romantik bis zur Gegenwart. Hrsg. Werner Müller und Gunther Vogel. München, 1981, Bd. 2, S. 297. 61) Jencks, Charles: Die Sprache der postmodernen Architektur. Stuttgart, 1978, S. 8. 62) Wagner-Rieger, S. 97. 63) a.a.O., S. 145. 315
	        

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