Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1994) (92)

Gedanken und Hinweise zum Historismus chitektur im 19. Jahrhundert» von Renate Wagner- Rieger zwei Werke von Neumann behandelt wer- den. Gustav von Neumann fand auch Aufnahme im Künstlerlexikon «Thieme-Becker», wenngleich nur in der Spalte seines Bruders und ohne nähere An- gaben zur Person, jedoch unter Erwähnung seiner Hauptwerke (Pfarrkirchen Schaan, Ruggell, Giess- hübl, Kapellen am Semmering und zu Landsberg im Adlertal, die Canisius- und die Herz Jesu-Kirche mit Kloster in Wien, die Allerseelen-Kapelle in Währing, das Regierungsgebäude in Vaduz). Aufschlussreich ist die Publikation «Wien am An- fang des XX. Jahrhunderts», in der die Wiener Ar- chitekturszene zum Zeitpunkt der Hauptschaffens- periode Gustav von Neumanns beschrieben wird. Hier wird im Beitrag «Katholische Kirchen des 19. und 20. Jahrhunderts»33 die Canisius-Kirche neben rund 15 anderen Kirchenbauten erwähnt, was an- gesichts der Kirchenbautätigkeit in Wien während nahezu eines Jahrhunderts ziemlich repräsentativ ist. Neumann wird auch hier als «Schmidt-Schüler» er- wähnt, was nicht gerade als Hinweis auf eine sehr eigenständige Entwicklung betrachtet werden kann: Neumann dürfte zu diesem Zeitpunkt die Akademie bereits seit 30 Jahren verlassen haben! Sein Bruder Franz von Neumann hingegen wird zur «engeren Gemeinde Schmidts, den Muster- schülern, wie Fleischer, Luntz, Wielemans, Avanzo, Kirstein, Weber u.a.»,34 gezählt. Er wird in dieser Publikation mehrmals erwähnt, ohne dass ihm da- bei jedoch die Bedeutung von Wagner, Schmidt, Hansen, Ferstel u.a.m. zugestanden wird. Neumann spielte keine führende Rolle in der Wie- ner Architekturszene. Er hat sich weder auf der progressiven noch der konservativen Seite profi- liert, seine Bauten lassen auf ein gerüttelt Mass an Anpassung schliessen. Neumann muss aber das «Architekturhandwerk» in einem sehr hohen Mas- se beherrscht haben, wofür einerseits sein reprä- sentatives, grosses Werk, seine Stellung als fürst- licher Architekt wie auch andererseits seine zwei Staatspreise zu Studienzeiten, Publikationen in «Musterbüchern» und das Angebot einer Professur sprechen. 
Zum Verständnis der Bauten Gustav von Neu- manns und seiner Zeit ist eine grobe Erläuterung der damals vorherrschenden Architekturhaltung, des sogenannten «Stils», erforderlich. Die architek- turtheoretische «Grosswetterlage» des ausgehen- den 19. Jahrhunderts ist der heutigen zwar in mancher Hinsicht sehr ähnlich, weist jedoch we- sentliche Unterschiede auf. In der Kunstgeschichte sind Stilbezeichnungen für ganze Epochen als Hilfs- und Arbeitsbegriffe eingeführt. Hinter der im Rückblick scheinbar logischen Entwicklung der scheinbar grossen Epochenstile verbirgt sich das einem späteren Verständnis nie ganz erschliess- bare, oft kontroverse Ringen um Sinngebung und authentische Selbstdarstellung von Gruppen und Individuen. Dieses Stilverständnis ist gerade im Fall der nur sehr grob erfassbaren Architektur des ausgehenden Historismus sehr wesentlich. Hans Gerhard Evers bemerkt 1963 in einem Vor- trag in München: «In der Kunstgeschichte wird die Fiktion aufrecht erhalten: es gebe einige originale Künste, nämlich die sogenannten echten Stile. Der Historismus sei seinerseits kein Stil, sondern sei die abgeleitete, kopienhafte, schwächliche Anwen- dung dieser Stile in der Kunst, vornehmlich in der Baukunst. Diese ganze Denk-Verbindung ist nur möglich mit dem Hilfsbegriff des <Stils>. Vermutlich wird man heute übereinstimmen, wenn man sagt: es hat den Stil überhaupt nie gegeben. Es hat nie einen gotischen Stil gegeben, nie einen do- rischen, nie einen korinthischen Stil. Sondern Stil ist dasjenige Denkmuster, das die Gelehrten, an ih- rem Auftrag die griechischen und römischen Archi- tektur-Theoretiker, Vitruv zum Beispiel, und her- nach die Denker der Renaissance, dann die Kunst- historiker des 19. Jahrhunderts, als Klassifikation aufgestellt haben. Der Ausdruck Stil ist ein Erken- nens-Prinzip, eine Unterscheidung ... Man kann die verschiedenen Gestalten, die man Stile nennt, sich nicht anders klarmachen, als indem man Mo- delle herstellt. Nun, in dem sogenannten Historis- mus des 19. Jahrhunderts sind solche Modelle er- stellt.»35 308
	        

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