Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1991) (90)

DIE FASTENTÜCHER VON BALZERS REINER SÖRRIES Du König der Juden.> Dann stehen sie wieder auf, speien ihm ins Angesicht und misshandeln ihn. Jesus leidet unaussprechlich, aber er schweigt. 0 Mensch, erkenne die schwere Schuld Deines Stol- zes, für welchen Gottes Sohn eine solche Genugtu- ung hat leiden müssen; und blicke oft hin, auf Dei- nen verhöhnten Heiland, damit Du von ihm Demut und Sanftmut lernest, wenn ähnliche Leiden dich treffen.» BAROCKES FASTENTUCH UND PASSIONS- ZEITLICHE FRÖMMIGKEIT Unter Einbeziehung der Gebetstexte wird die Be- trachtung des Leidens Christi, die oben erwähnte <Compassio>, zu einer moralischen Instanz, die die eigene Sündhaftigkeit als Ursache des Leidens be- greift und im Leiden Christi gleichzeitig ihre Erlö- sung findet. Um diese Korrelation von Christi Lei- den und eigener Sündhaftigkeit zu unterstreichen, verweisen wir auf das geographisch naheliegende Fastentuch aus Lustenau (Abb. 4), welches sich heute im Vorarlberger Landesmuseum in Bregenz befindet und 1686 datiert ist.11 Für das Verständnis der Passion sind vor allem die beiden, von Putten gehaltenen Schriftstücke links und rechts des Kreuzquerbalkens von Bedeutung. Auf ihnen ist zu lesen: «Kom her und hör mein Leyden an - schaw wie schmerzlich ich leyde (links) für deine sünd habss ich gethan - die sünd, meyn kind, doch meyde.» Das Leiden Christi ist Konsequenz der Sünde. Dass es sich ständig wiederholt, also kein historisch abgeschlossenes Faktum darstellt, wird dadurch betont, dass es sich für die Sünde des Be- trachters stets neu ereignet. Darauf folgt die Mah- nung, die Sünde zu meiden, um Christus das Leiden zu ersparen. Mag diese enge kausale Verquickung der Passion Christi mit der Einzelsünde des Men- schen auch sehr laienhaft und volkstümlich-anti- quiert erscheinen, so trug sie doch zu einer lebendi- gen Aktualisierung christlicher Verkündigung bei. In der Barockzeit hatte sich ein tiefgreifender Wan- del in der Frömmigkeit vollzogen, der sich auch in der Ikonographie der Fastentücher niederschlägt. 
Um dies zu verdeutlichen, sei nochmals auf das bereits erwähnte Fastentuch von Bendern verwie- sen (Abb. 5). Dort stand dem Betrachter die Heils- geschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Weltgericht Szene für Szene, Feld für Feld als ob- jektives Geschehen vor Augen gemalt. Dieses Ge- schehen ereignete sich so und nicht anders. Gottes Plan stand ausserhalb menschlicher Möglichkeiten, und der Mensch konnte sich das Heil glaubend an- eignen oder nicht. In nachmittelalterlicher Zeit da- gegen trat der einzelne Mensch zunehmend aus der kollektiven Gemeinschaft heraus und erlebte sich 11) Sörries, Alpenländische Fastentücher, Kat. Nr. 64. Abb. 4: Fastentuch aus Lustenau «Kreuzigung Christi» 1686 Bregenz, Vorarlberger Lan- desmuseum 377
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.