Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1991) (90)

Tischgemeinschaft besiegelte die Zusammengehö- rigkeit, die die Versammlung aller berechtigten und verpflichteten Korporationsgenossen zuvor erneu- ert und fortgeschrieben hatte.50 Wer sich mit Nach- baren, mit seinen Gemeinde- oder Zunftgenossen oder mit seinem Herrn oder dessen Gesandten an einen Tisch setzte, gab damit auch grundsätzlich seiner loyalen, aufrichtigen Gesinnung Ausdruck, gab ein starkes Zeichen seiner freundschaftlichen Zuneigung. Herrschaft und die Beherrschten zele- brierten hier eine harmonische Gemeinschaft, das ideale Miteinander von Herren und Untertanen. III. DIE HULDIGUNG ALS VERFASSUNGSAKT Inwiefern lässt sich nun die Huldigung als «Verfas- sung im vorkonstitutionellen Zeitalter», als Verfas- sung in einer Zeit ohne geschriebene Verfassung, bezeichnen? Verfassung soll hier in einem weiteren Sinn als Gesamtheit jener Strukturen und Verfah- ren aufgefasst werden, die rechtlich und institutio- nell die Existenz einer sozialen Handlungsgemein- schaft begründen und auf Dauer sichern.51 Auf die Huldigung übertragen, lautet die These somit, dass im aktuellen Vollzug des Schwuraktes die Verfassung des schwörenden Herrschaftsver- bandes aktualisiert, erneuert und in ihrer Gültigkeit fortgeschrieben wurde. Bei der Huldigung brachten beide beteiligten Parteien, Herrschaft und Genos- senschaft, jene Normen und Werte zur Sprache, die ihr wechselseitiges Verhältnis prägen und bestim- men sollten. Gleichsam wie in einem Brennpunkt bündelten das Zeremoniell und der Ablauf der Hul- digung die entscheidenden politisch-rechtlichen Merkmale des jeweiligen Herrschaftsverbandes. Der Landesherr forderte mit der Huldigung den Konsens und die Anerkennung durch die betroffe- nen Untertanen und suchte gleichzeitig, sich für die Dauer der eigenen Herrschaft ihrer Loyalität und zuverlässigen Pflichterfüllung zu vergewissern. Dies erreichte er nur, wenn er im Gegenzug bereit war, das alte Recht und die Freiheiten der Gemein- den und Korporationen anzuerkennen und zu ga-rantieren. 
Die Huldigung definierte somit, ver- gleichbar der Aufgabe heutiger Verfassungen, Reichweite und Grenzen legitimer Herrschaftsaus- übung. Dass und in welchem Ausmass die Landesherren am Eid ihrer Untertanen interessiert waren, macht auf ein weiteres entscheidendes Merkmal der vor- modernen Herrschaftsordnung aufmerksam. Ange- sichts einer weitgehend fehlenden Bürokratie sowie der nur schwachen Ausbildung polizeilicher oder militärischer Exekutivorgane in den kleinen Terri- torien des Reiches beruhte die dauerhafte Aus- übung herrschaftlicher Macht in entscheidendem Ausmass auf der Anerkennung durch die betroffene Bevölkerung, auf deren Mitmachen. Der Treue- schwur sollte ja das Verhalten der Untertanen für die Lebenszeit des Fürsten auf den Massstab polen, dessen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Verfassungscharakter kann die Huldigung auch in- sofern beanspruchen, als sie die Bauern und Bürger einer Herrschaft zu einem organisierten Verband integrierte und die eindeutige Abgrenzung dieses Verbandes nach aussen gewährleistete. Die Verhal- tenserwartungen beider beteiligten Parteien wur- den anlässlich der Huldigung ausdrücklich formu- liert, verbindlich erklärt und damit mit gesteigerter Aussicht auf Durchsetzung bzw. im Fall der Zuwi- derhandlung mit Aussicht auf Sanktionierung aus- gestattet. Dass es jahrhundertelang dieses öffentlichen, förm- lichen Aktes bedurfte, um Pflichten und Rechte von Herrschaft und Untertanen zu erneuern und fortzu- schreiben, schärft den Blick schliesslich auch für kultur- und zivilisationsgeschichtliche Merkmale der altständischen Gesellschaft: Diese war weitge- hend eine mündlich, nicht schriftlich funktionieren- de Gesellschaft. Orale bzw. teilorale Gesellschaften aber bedürfen anderer Mechanismen zur Begrün- dung und Fortschreibung von Herrschafts- und Rechtsordnungen als jene Gesellschaften, die weit- gehend durch Schriftkultur und Schriftverkehr ge- prägt sind. Als Beleg dafür sei nur auf das Problem hingewiesen, dass in der mittelalterlichen Gesell- schaft die Feudalherren Gefahr liefen, ihre Ansprü- 296
	        

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