In memoriam Dr. h. c. David Beck Volksliedaufzeichnungen aus Liechtenstein von Josef Bitsche Es empfiehlt sich, einem Aufsatz über Volkslieder eine kurze Be- griffsbestimmung voranzustellen; die Erfahrung zeigt nämlich, dass jeder Leser oder Zuhörer sich darunter etwas anderes vorstellt. Über den Begriff «Volkslied» ist schon 1911 ein ganzes Buch geschrieben worden.1) Doch tauchten auch nachher noch verschiedene Theorien auf, die mitunter heftig bestritten wurden. Diese Kämpfe gehören jetzt wohl der Geschichte an. Heute zählt man den Volksliedern zu, was tatsächlich von Angehörigen der unteren Volksschichten — den Un- studierten — ersonnen und weitergetragen
wurde und jene Gesänge aus dem Liedschatz gebildeter Kreise, die vom einfachen Volke über- nommen und
nach eigenem Gutdünken zurechtgesungen wurden. In Einzelfällen darf man auch unverändert übernommene Lieder dazu- zählen, so etwa Goethes «Heidenröslein» und Heines «Lorelei».2) Dass gerade diese Lieder vom Volke nicht «zerzaust» wurden, liegt an der wirklich volksnahen Text- und Melodiegestalt, ferner an der weiten Verbreitung durch Schulbücher oder andere
Sammlungen volkstüm- licher Lieder und schliesslich an der Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort, die auch heute noch einem Grossteil des Landvolkes innewohnt. Auch inbezug auf
die Verbreitung und das Leben des Volksliedes mussten wir alte Vorstellungen berichtigen. In früheren Zeiten sang wirklich
das ganze Volk in Stadt und Land (Großstädte im heutigen Sinne gab es damals noch nicht). Heute ist das Volkslied in den Gross- städten wirklich tot, in Kleinstädten und in Durchzugsgebieten schein- tot, auf dem Lande führt es ein Aschenbrödelleben. In verkehrsreichen Gebieten war schon früher ein rascheres Kommen und Gehen der Lieder festzustellen; in Seitentälern aber, abseits der Heerstrasse, hiel- 49