Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1940) (40)

— 196 — nem Antriebe. Alles, was 
er schrieb, wurde von 
Rheinberger still in 
der Klasse durchgesprochen und keiner der 26 Klassenkameraden hörte jemals etwas davon. Alle Klassenarbeit 
ging an der Schul- tafel vor sich, und das Klavier 
wurde selten gebraucht. In dieser Stille wurden die auserlesensten Kontrapunkte ent- weder durch Rheinberger oder durch 
einen Studenten auf die Tafel geschrieben. Die Spannung 
war kolossal, und nach 2 
Stunden waren wir erschöpft. Welch 
ein seltsamer Blick für einen Außenstehenden, der Gele- genheit hatte, hereinschauen zu können. Ein langer, kahler Raum, schlecht beleuchtet durch Gas. Ein kleiner, graubärtiger Mann mit brennenden Augen und 
ausdrucksvollen Händen; 2V ganz absorbierte Studenten auf eine Tafel schauend, auf welcher Noten geschrieben wurden, atemlos und in absorbierter Stille auf 
die nächste Stei- gerung wartend: eine wunderbare Stelle im Alt, ein aufregender Anschlag im Tenor, eine delikate, befriedigende Melodieführung in dieser oder jener Stimme. Das Ganze wunderbar klingend. Klang! Wie — 
wenn diese Noten klingen könnten? Ja, jeder Student hörte sie und jede kleine weiße Note klang, 
wenn sie geschrieben war... Unsere Klasse löste sich auf und jeder startete ins Leben. Viele von ihnen erreichten 
große Bedeutung. Rheinbergers Idealismus breitete sich über die,Welt aus. Ich inserierte im „Bostoner 
Sinfonie-Programm" und im „Bo- stoner Transkript 
für Harmonie, Kontrapunkt und Komposition" — und wartete. Es war eine 
gespannte Zeit, aber wir 
hatten beste Hoffnung, daß das Unmögliche geschehen werde. Und 
plötzlich geschah es. Karl Baermann, unser 
erster Pianist, welcher von München kam, ließ mich zu sich kommen 
und sagte mir, daß ihm von München geraten wurde, seine Schüler in 
meine Harmoniestunden zu schicken. Ich wußte, das war Rheinberger, der für mich was 
tat. Ich war erfüllt von 
einer tiefen, überströmenden Dankbarkeit. Der kleine gasbeleuchtete Raum und die 3 
langen Jahre kamen in die Erinne- rung zurück und ich fühlte mich entschädigt für all die harte Arbeit, welche ich geleistet hatte. 
Und so ist es. Wenn wir durch das Leben gehen, treffen wir einige wenige große Seelen, 
deren Idealismus so rein, so unerschütterlich dasteht wie ein schneebekleideter Berges- gipfel. Diese Empfehlung von Rheinberger, der zwar viele tausend Meilen entfernt war, bedeutete alles.
	        

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