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schliesslich keine Mehrheit für ein Berufungsrecht
der Regierung. Die entsprechenden Gesetzesartikel
wurden abgelehnt, worauf die Regierung die gesam
te Vorlage zur Revision des Strafprozessrechts zu
rückzog.
Einsetzung einer Kommission
Trotz erheblicher Differenzen innerhalb des Land
tags, aber auch zwischen Landtag und Regierung,
war die Notwendigkeit einer Reform des liechten
steinischen Justizwesens allgemein anerkannt. Es
war auch Wunsch des Landesfürsten, dass eine zeit-
gemässe Regelung zustande kam. Deshalb be
schloss der Landtag 1907, die Justizreform erneut
zu beraten. Er wählte eine «Siebnerkommission»
mit dem Auftrag, die Reformwünsche des Landtags
zu präzisieren und entsprechende Vorschläge zu er
arbeiten. 129 Im Dezember 1907 kam im Landtag ein
entsprechender Kommissionsantrag zur Bera
tung. 130 Die Kommission hatte für ihre Arbeiten den
Advokaten Josef Peer 131 , damals Bürgermeister von
Feldkirch, konsultiert. In ihrem Bericht, der sich im
Wesentlichen mit Peers Stellungnahme deckte, war
festgehalten, dass «die Justizreform nicht ein Flick
werk, sondern ganze Arbeit» werden solle. Es müs
se daher «im Zivil- und Strafverfahren die moderne
Gesetzgebung, die sich in Österreich trefflich be
währt habe, zur Einführung kommen.» Dement
sprechend habe an Stelle der alten gesetzlichen Be
weisregeln das Prinzip der freien Be weis Würdigung
zu gelten. Konsequenterweise müsse aber auch bei
der zweiten Berufungsinstanz dieses Prinzip gelten,
und die Verhandlungen müssten auch bei dieser In
stanz öffentlich und mündlich stattfinden. Eine
wirksame Reform sei nur möglich, wenn die zweite
Instanz mit öffentlichem und mündlichem Verfah
ren im Lande selbst errichtet werde. Für Strafsa
chen wurde ein vierköpfiger Senat, bestehend aus
zwei Berufsrichtern und zwei Laienschöffen, für zi
vilrechtliche Rekurssachen ein dreiköpfiges Rich
terkollegium mit einem Berufsrichter und zwei Lai
enschöffen vorgeschlagen. Als oberster Gerichtshof
sollte neu an Stelle des Oberlandesgerichts in Inns
bruck das liechtensteinische Appellationsgericht in
Wien treten. Weiters sollte die Institution der Staats
anwaltschaft geschaffen und dazu neben dem Land
richter ein weiterer juristischer Beamter angestellt
werden. Der neue Beamte sollte auch mit Verwal
tungsstrafsachen betraut werden. Gemäss einstim
mig verabschiedetem Antrag sollte die Regierung
diese Vorschläge zu einer Justizreform zur Kenntnis
nehmen und die entsprechenden Gesetzesentwürfe
bald vorlegen. 132
Kontroverse Debatte
In der Landtagssitzung vom 14. Dezember 1907
führte der Antrag der Siebnerkommission zu einer
teilweise hitzigen und ungewohnt langen Debatte.
Der Kommissionsvorsitzende Albert Schädler be
tonte eingangs die Notwendigkeit und Bedeutung
der vorgeschlagenen Justizreform. Er meinte u. a.:
«Wenn unser Land auch noch so klein ist und infol
ge dessen die Einführung mancher kultureller Insti
tutionen wegen der Anpassung an unsere besonde
ren Verhältnisse mit Schwierigkeiten verbunden ist,
so haben wir doch nach unserer ganzen Entwick
lung den Rechtsanspruch und die Pflichten eines
Kulturstaates und können daher in einer so wichti
gen Angelegenheit, wie die Justizpflege ist, nicht
rückständig bleiben.» 133 Seitens der Befürworter
wurde die Verlegung des Obergerichts ins Land und
das damit ermöglichte mündliche und öffentliche
Verfahren auch in der zweiten Instanz als «eine der
wichtigsten Errungenschaften auf dem Gebiete der
Justizpflege» bezeichnet. Mit Bezug auf das damals
neu errichtete repräsentative Regierungsgebäude
meinte ein anderer: «Wenn die Erstellung unseres
Amtsgebäudes und die moderne Ausstattung der
Lokale die Finanzkraft des Landes nicht überstiegen
habe, so könne es auch nicht am Platze sein, dass in
demselben Gebäude die Justiz im Zivil- und Straf
prozess nach einem Verfahren gehandhabt werde,
welches mit den anderen Anschauungen in Kultur
staaten nicht mehr in Einklang zu bringen sei.» Ge
gen den Kommissionsantrag äusserten sich die drei
fürstlichen Abgeordneten. Sie erachteten die Kosten
der vorgeschlagenen Reform als eine zu hohe und
unverhältnismässige Belastung für den Staatshaus
halt und sprachen sich für eine Gesetzesrevision auf
der Basis der im Vorjahr beratenen Regierungsvor-