GESCHICHTE DES LAIENRICHTERTUMS IN
LIECHTENSTEIN / ALOIS OSPELT
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Strafgewalt die zur Strafgerechtigkeit des Strafur
teils erforderliche Überzeugung, dass die verbre
cherische Tat im vollen Umfange ihrer Strafwürdig
keit dem Verbrecher klar und erkennbar war, weil
die Entscheidung der Schuldfrage Personen über
lassen ist, von denen alle oder wenigstens einige der
Stufe der geistigen Bildung und der bürgerlichen
Gesellschaft nahe stehen, worauf sich der Angeklag
te befindet, und die darum von sich aus den letzte
ren in seiner ganzen Individualität genauer zu beur
teilen vermögen, als wie dies ein in der Regel in
grösserer geistigen und gesellschaftlichen Entfer
nung vom Angeklagten stehender Richter stand je
im Stande ist. - Aber nicht bloss vom juristischen,
sondern auch vom politischen Standpunkt aus zeigt
sich uns das Schwurgericht in vorteilhaftem Lichte,
weil dasselbe sich uns als natürliche Folge der
wahrhaften Repräsentativ-Verfassung vorstellt, die
in ihrem Grundsätze, dass das Volk mitwirken soll
bei den wichtigsten Angelegenheiten des Staates,
folgerichtig dessen Mitwirkung auch bei dem so
überaus einflussreichen Zweige der Staatsverwal
tung, der Strafrechtspflege, gebietet.» Nach an
schliessenden Überlegungen zur Wahl der Ge
schworenen, zum Instanzenzug und zur freien Be
weiswürdigung schliesst der Text mit der richtigen
Annahme, dass es auch möglich sei, dass an Stelle
der bisherigen die österreichische Strafprozessord
nung von 1853 treten werde. Die dort im Schluss
verfahren gewährte Öffentlichkeit und Mündlichkeit
«heben allerdings noch nicht alle Schattenseiten der
geheimen Schriftlichkeit, wären aber in Ermange
lung von etwas Besserem auf dem Gebiete unserer
Strafrechtspflege selbst in ihrer dritten homöopathi
schen Verdünnung des Prinzips der Mündlichkeit
und Öffentlichkeit als kleiner Fortschritt freudiger
Begrüssung wert», schliesst der Text.
Empfehlung zur Neugestaltung der Strafprozess
ordnung von Josef Lindner, Feldkirch
Schon vor dem Beschluss der Gesetzgebungskom
mission des Landtags vom 26. Juni 1880, die Regie
rungsvorlage durch Fachleute begutachten zu las
sen, lag dem Landesausschuss eine entsprechende
Stellungnahme vor, die er selbst in Auftrag gegeben
hatte. Sie datierte vom 4. Juni 1880 und stammte
von einem gewissen Dr. Lindner aus Feldkirch. 99 100
Lindner empfahl dem Landesausschuss, die ganze
Vorlage abzulehnen und ein vollständig neues, zeit-
gemässes Gesetz zu verlangen. Durch die Strafpro
zessnovelle sollte die längst veraltete, in Liechten
stein aber immer noch geltende österreichische
Strafprozessordnung vom 3. September 1803 abge
ändert und Satzungen, die die Sicherheit der Recht
sprechung und die Freiheit des Bürgers am meisten
gefährdeten, sowie Härten, die dem mittelalterli
chen Inquisitionsprozess entstammten, sollten be
seitigt werden. Gleichzeitig werde dem Landtag
aber zugemutet, dass er im Übrigen mit der Fort
existenz dieses veralteten Gesetzes einverstanden
sei. Lindner beschrieb die Entwicklung des österrei
chischen Strafprozessrechts und betonte dabei die
Bedeutung einer strengen Durchführung des Ankla
geprinzips und der Teilnahme des Volkes an der Be
urteilung der Schuld angeklagter Bürger. In Öster
reich seien 1850, 1853 und 1874 drei vollständig
neue Prozessordnungen über jene von 1803 hin
weggegangen. Die Strafprozessordnung von 1853
sei im Gegensatz zur früheren von 1850 in wesentli
chen Punkten mit den Rechtsanschauungen der
Neuzeit nicht im Einklang. Diesen sollte die Reform
in Liechtenstein Rechnung tragen. Mit der in der Re
gierungsvorlage vorgesehenen Änderung einiger
Paragraphen könne ein solcher Zweck jedoch nie
erreicht werden. Und Lindner fährt fort: «Die Re
präsentanz des Volkes in Liechtenstein, wenn sie
sich mit der Frage der, wie die Regierung selbst ein
99) Gemeint sind hier die Gerichtszeugen, die gemäss der österrei
chischen Strafprozessordnung von 1853 dem vom Untersuchungs
richter resp. Gericht geführten Untersuchungsverfahren beiwohnten.
Vgl. oben, S. 54 f.
100) LLA RE 1881, Nr. 240: Gutachten Dr. Lindner, Feldkirch, als
Beilage zum Sitzungsprotokoll des Landesausschusses vom 8. Febru
ar 1881.
Gemäss Auskunft des Feldkircher Stadtarchivs vom 15. Januar 2009
handelt es sich beim Verfasser des Gutachtens um den Advokaten Dr.
Josef Lindner. Lindner, geboren 1830, war seit 1856 Advokaturkon
zipient in Feldkirch, übersiedelte 1864 nach Dornbirn, verlegte seine
Kanzlei 1871 wieder nach Feldkirch, wo er 1883 das Heimatrecht
erlangte. Er starb 1910 in Bregenz und wurde in Feldkirch beerdigt.