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eine Anknüpfung an die einst erreichten Ziele des
Frühkonstitutionalismus von 1848/49. Dazu gehör
te auch die Laienbeteiligung im Strafverfahren. Das
Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die
richterliche Gewalt statuierte die richterliche Unab
hängigkeit, die durchgehende Trennung der Justiz
von der Verwaltung sowie die Öffentlichkeit und
Mündlichkeit des Verfahrens. Es kam zu einer Rück
besinnung auf den Wert des Geschworenengerichts.
Die volle Umsetzung und Verankerung der Laienbe
teiligung geschah aber erst durch die Strafprozess
ordnung von 1873. Ihre Bestimmungen zur Ge
schworenengerichtsbarkeit stammten fast inhalts
gleich aus der Strafprozessordnung von 1850. Das
bis 1974 geltende Strafgesetz von 1852 fusste weit
gehend auf dem 1803 erlassenen Strafgesetzbuch.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde durch die
Strafprozessnovelle von 1920 die Mitwirkung der
Bevölkerung an der Gerichtsbarkeit in Form von
Geschworenen- und Schöffengerichten neu gere
gelt. Die Geschworenengerichtsbarkeit wurde auf
Schwerstkriminalität und politische Delikte (Hoch
verrat) beschränkt. Für Strafverfahren mittlerer
und schwerer Kriminalität wurden Schöffengerich
te als neues Laienelement geschaffen. Das Gericht
bestand aus zwei beeideten Laienrichtern und zwei
Berufsrichtern. Einer der Berufsrichter führte den
Vorsitz.
Im Austrofaschismus 1934 wurde das Geschwo
renengericht faktisch abgeschafft, und in der NS-
Justiz mit ihrer staatlich gesteuerten Rechtspre
chung wurden die Laien aus der Strafrechtspflege
verdrängt. Traurige Höhepunkte waren der Volks
gerichtshof (1939) und Sondertribunale. 1950 wur
de schliesslich die Geschworenengerichtsbarkeit
wieder eingeführt.
DIE ENTWICKLUNG IN LIECHTENSTEIN 11
FRÜH- UND HOCHMITTELALTER. VON
DER RÄTISCH-RÖMISCHEN ZUR FRÄNKISCH
DEUTSCHEN RECHTSTRADITION 12
Über die Gerichtsorganisation in unserer Region vor
der Ausgestaltung von Landesherrschaften im Spät
mittelalter ist nur wenig bekannt. Bei den rätischen
Volksstämmen, die 15 v. Chr. von den Römern unter
worfen wurden, lag die Gerichtsgewalt beim Volk,
bei der versammelten Stammesgemeinde. Auch das
in Churrätien bis ins 8. Jahrhundert geltende rö
misch geformte Gewohnheitsrecht und die rätisch-
romanische Verwaltungsordnung lassen eine Mit
wirkung des Volkes deutlich erkennen.
Seit dem 8. Jahrhundert setzte sich in Rätien die
fränkische Oberhoheit immer mehr durch. Die Ein
führung der fränkischen Grafschaftsverfassung
durch Karl den Grossen im Jahre 806 bedeutete
eine Zäsur für das Gerichtswesen. Von da an ist die
Gerichtsorganisation in unserer Region über ein
Jahrtausend lang wesentlich bestimmt durch den
Gang der Verhältnisse im Alten Deutschen Reich.
Die oben skizzierte Entwicklung im mitteleuropäi
schen Rechtskreis bildet somit den Rahmen für die
folgende Betrachtung der lokalen Zustände.
Bereits im Jahre 807 sitzt Hunfrid, Graf von Rä
tien, als königlicher Amtsträger auf der Dingstätte
zu Rankweil zu Gericht. Das freie Landgericht war
Teil der königlichen Gerichtsbarkeit und bildete ei
nen übergeordneten Gerichtsort für die Gaugraf
schaft Churrätien, die das grosse Gebiet zwischen
Septimer, Walensee, Arlberg und Bodensee umfass
te. Dingpflichtig waren alle Freien der Grafschaft.
Sie mussten zu den angekündigten Gerichtstagen
der Grafen erscheinen. Am «gebotenen Ding» je
doch hatten nur die Schöffen und die angesehenen
Männer der Grafschaft teilzunehmen.
Der Gau Churrätien war in acht Untergrafschaf
ten (Ministerien, Zentgrafschaften) geteilt. Unser
Gebiet gehörte zu den Ministerien «in planis» (Unter
der Landquart) und «vallis Drusiana» (Walgau). Je
des der Ministerien war einem fränkischen Unter-