GESCHICHTE DES LAIENRICHTERTUMS IN
LIECHTENSTEIN / ALOIS OSPELT
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Neben den Volksgerichten bestand das Königsge
richt, das am jeweiligen Aufenthaltsort des Königs
tagte. Der König war oberster weltlicher Richter. Er
(bzw. sein Hofgericht) übte die hohe Gerichtsbarkeit
(Blutgerichtsbarkeit) selber aus oder gab sie über
Bannleihe an Grafen oder Vögte weiter. Später be
trachteten Fürsten und Landesherren die verliehe
ne Gerichtsgewalt als eigenständiges, zumindest
erbliches Recht. Diese Auffassung war Teil der Ent
wicklung zum Territorialstaat, indem die Landes
herren zu den eigentlichen Trägern der Gerichts
barkeit wurden.
Bis in die Neuzeit beruhte die Rechtsprechung
der Gerichte vor allem auf dem Rechtsgefühl und
Rechtsbewusstsein des Volkes, wie es in den Weistü-
mern und Rechtsbüchern zum Ausdruck kam. Das
Recht war Gemeingut aller. Es wurde vom Volk
durch Erinnern an altes Herkommen nach freier
Überzeugung von Fall zu Fall geschöpft. Die Ent
scheidungsträger und Urteilsfinder waren keine
rechtswissenschaftlich gelehrten Richter, sondern
Angehörige des jeweiligen Gerichtsbezirks. Zur
Rechtsfindung bedurfte es keiner formalen juristi
schen Bildung. Die an der Urteilsfindung beteiligten
Personen waren Laien, die jedoch in regionalen
Teilbereichen durchaus über ein rechtskundliches
Wissen verfügten. Das Rechtsverständnis war
grundsätzlich genossenschaftlich. Es wurde in der
Rechtsgemeinschaft gebildet und gründete nicht auf
dem Willen von Herrschaftsträgern, sondern auf
dem Willen der Gemeinschaft. Die Rechtsordnung
war geprägt durch eine unsystematische, oft kurzle
bige partikulare Regelungsvielfalt.
Noch in der beginnenden Neuzeit war die gesam
te Rechtspflege öffentlich. Das gesamte Verfahren
von der Verfolgung bis zur Bestrafung einer Misse
tat war öffentlich. Nur so konnten die des Lesens
und Schreibens unkundigen Leute die rechtlichen
Inhalte erfahren. Recht war nicht eine abstrakte
Ordnung, sondern Lebensgrundlage aller. Deshalb
beteiligten sich auch alle am Rechtsleben.
REZEPTION DES GEMEINEN RECHTS
(RÖMISCHES RECHT)
Bis ins 13. Jahrhundert gab es kaum Rechtsgelehrte
und keine Möglichkeit, sich juristisch ausbilden zu
lassen. Dann wurde das römisch-kanonische Recht
Grundlage der an Universitäten gelehrten Rechts
wissenschaft mit logisch begründeten Rechtsgrund
sätzen und -lehren. In Europa entstand der Beruf
des Juristen. Für ihn war das vom Volk und im Ding
praktizierte Recht etwas Fremdartiges, da es nicht
einem gelehrten und professionellen Rechtswissen
entsprang. Die abstrakten Regelungen der Lebens
verhältnisse im gelehrten Recht wurden als eine ge
rechtere Urteilsgrundlage empfunden als das alt
überlieferte Gewohnheitsrecht. Das Bedürfnis nach
einem einheitlichen und wissenschaftlich durchbil
deten Recht sowie die humanistische Geisteshal
tung förderten das Vordringen des gemeinen, rezi
pierten römischen Rechts. Mit ihm kam wieder die
antike Staatsauffassung zur Geltung. Das Gesetz
war Ausdruck des Herrscherwillens. Der Herrscher
selbst aber war frei von der Bindung an das Recht.
Aus dem landesfürstlichen Recht, Verfahren an sich
zu ziehen, bildete sich die so genannte Kabinettsjus
tiz. Im Absolutismus fand dieser stetig wachsende
Einfluss der Herrscher auf Gesetz und Recht seinen
Höhepunkt. Auch in den aufkommenden Territorial
staaten herrschte solches Streben nach Rechtsein
heit und rationaler Verwaltung und Rechtspre
chung. Nach und nach bildete sich so im Laufe der
Jahrhunderte staatliches Recht, wie wir es heute
kennen, und die Strafrechtspflege wurde eine Ange
legenheit der staatlichen Gemeinschaft.
8) Zu dieser Übersichtsdarstellung vgl. nachfolgende im Literaturver
zeichnis aufgeführte Publikationen: Angehrn; Bader; Baltl; Benz;
Carlen; Gmür; Grube; Kross; Linkenheil; Sadoghi; Schild; Wesel.
9) Sadoghi, S. 255 f.