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Die Entwicklung der Beteiligung
von Laien an der Gerichtsbarkeit
EIN RECHTSGESCHICHTLICHER ÜRERRLICK
ALLGEMEINER ÜBERBLICK. MITTEL
EUROPÄISCHER RECHTSKREIS 8
ZEITLICHE EINGRENZUNG
Die Mitwirkung von Laien in der Rechtspflege, be
sonders im Strafprozess, hat eine lange historische
Entwicklung hinter sich. Eine historische Betrach
tung der Laienbeteiligung darf nicht erst bei der im
18. Jahrhundert geforderten Beteiligung des Volkes
an allen Staatsfunktionen beginnen. Sie muss viel
mehr schon beim germanischen Gerichtsverfahren
ansetzen. Die Auswahl der Schöffen und die Wand
lungen des Strafverfahrens dürfen nicht derart aus
dem geschichtlichen Entwicklungsprozess heraus
gerissen werden. Viele Regelungen bekommen erst
durch Einfügen in diesen Prozess Sinn und Bedeu
tung. Die Rolle der Laienrichter und ihre Befugnisse
spiegeln die von den politischen und geistigen
Strukturen der jeweiligen Epochen abhängige
Wechselbeziehung von Recht sprechender Gewalt
und Gesellschaft wider. Der im Laufe der Zeit unter
schiedliche Gang der Urteilsfindung ist für die Legi
timation der Strafgewalt sowie für die Beteiligung
des Volkes an der Rechtsprechung von entscheiden
der Bedeutung. Deshalb soll ihre historische Ent
wicklung bereits seit dem Mittelalter dargestellt
werden.
RÄUMLICHE BEGRENZUNG
Die Darstellung beschränkt sich auf den mitteleuro
päischen Rechtskreis, bestehend aus Deutschland,
Österreich, der Schweiz und Liechtenstein. Er ba
siert auf dem germanisch-deutschen Recht und ist
im Verwissenschaftlichungsprozess stark durch das
römisch-gemeine Recht geprägt. Die Strafverfahren
weisen eine gleichförmige historische Entwicklung
auf. Sie führt vom mittelalterlichen privaten Ankla
geprozess mit Eideshelfern und Gottesurteilen über
den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen In
quisitionsprozess bis zur Grundlegung des moder
nen Strafprozesses im 19. Jahrhundert. 9
DAS ALTE GERMANISCH-DEUTSCHE RECHT
In der bis zu den Rechtsbüchern des 12. Jahrhun
derts (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel) heraufrei
chenden Epoche des alten deutschen Rechts lag die
Rechtsprechung im Wesentlichen in den Händen
des Volkes. Waren früher Streitigkeiten innerhalb
der Sippen durch disziplinäre Selbsthilfe erledigt
worden, so wurde in dieser Zeit Streit zunehmend
statt durch Fehde vor Unparteiischen ausgetragen.
Das germanische Gerichtswesen gründete auf
der Teilnahme aller freien Volksgenossen an der Ge
richtsversammlung, welche unter freiem Himmel,
meistens an Opferstätten, abgehalten wurde. Es gab
zwei Arten von Gerichtsversammlungen, das echte
Ding, das zu bestimmten Zeiten an hergebrachter
Gerichtsstätte abgehalten wurde, und das gebotene
Ding, das je nach Bedarf zusammentrat. Das Gericht
bestand aus einem Richter und der Gerichtsgemein
de, die in ältester Zeit zusammen das Urteil fällten.
Später wurde der Vorsitzende Richter, ein Graf oder
königlicher Beamter, zum «Frager des Rechts». Er
leitete die Verhandlung und erfragte das Urteil von
der Gerichtsgemeinde oder einzelnen rechtskundi
gen Urteilern (Schöffen). Diese Trennung zwischen
Richter einerseits und Urteilsfinder andererseits
kann als Grundsatz des germanischen Strafprozess
rechts bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts verfolgt
werden.
Mit dem Entstehen des fränkischen Reiches zwi
schen dem 5. und 9. Jahrhundert bildeten sich spe
zifisch fränkische Prozesseinrichtungen. Es kam zur
Unterscheidung zwischen hoher und niederer Ge
richtsbarkeit. Neben den Volksgerichten entstand
das fränkische Königsgericht, in dem der Beginn ei
ner staatlichen Gerichtsbarkeit zu sehen ist. Zwi
schen 770 und 780 reformierte Karl der Grosse das
Gerichtswesen. Das echte Ding wurde auf drei Ge
richtssitzungen im Jahr beschränkt. Am gebotenen
Ding fanden auf Lebenszeit bestellte, ständige Ur
teilsfinder (Schöffen) das Urteil. Die dingpflichtigen
wehrfähigen Volksgenossen mussten daran nicht
mehr teilnehmen. Sie wurden durch die Einführung
des Schöffenamtes entlastet. Die Urteilsfinder wa
ren in Rechtsdingen gut bewanderte Personen.