Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2010) (109)

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Von einer Makroperspektive ausgehend, wirft Al 
termatt in einem einleitenden Kapitel (Kapitel II) zu 
erst einen transnationalen Blick auf Religionen und 
im Besonderen den Katholizismen in Europa im 19. 
und 20. Jahrhundert, welchen er in Kapitel III als 
profunden Kenner des Schweizer Katholizismus am 
schweizerischen Beispiel konkretisiert. Auf eine Mi 
kroperspektive übergehend, hebt Altermatt dann in 
Kapitel IV verschiedene Bereiche und Beispiele von 
Erinnerungs- und Geschichtspolitik(en) im Natio 
nalstaat Schweiz hervor. Seine Fragen zum Verhält 
nis von Religion und Nation aus geschichtspoliti 
scher, aber auch kulturgeschichtlicher Perspektive, 
führt Altermatt schliesslich in einem längeren 
Schlusskapitel mit Thesen zum Erosionsprozess von 
Nation und katholischer Sondergesellschaft an 
schaulich zusammen. 
Anhand des Beispiels Tessin weist der Freiburger 
Historiker in seiner transnationalen Perspektive auf 
die europäischen Katholizismen darauf hin, dass 
nicht alle sprachlichen und konfessionellen Minder 
heitenstellungen innerhalb Europas zu Separati 
onswünschen der betreffenden Minderheiten von 
der grossen Mehrheit führen mussten oder müssen. 
Er führt dies auf eine aussergewöhnliche Konstella 
tion der beiden Faktoren Religion und Nation zu 
rück. Der italienischsprachige und katholische Kan 
ton Tessin verspürte nie den Wunsch nach einem 
Anschluss an Italien und einer damit verbundenen 
Loslösung von der mehrheitlich deutschsprachigen 
und überwiegend protestantischen Schweiz. Dies 
deshalb, so Altermatt, weil weltanschauliche Kon 
flikte zwischen den konservativen Katholiken und 
den antiklerikalen Liberalen, die innerhalb des Kan 
tons Tessin stattfanden, gleichzeitig den nationalen 
Zusammenhalt mit Gleichgesinnten über die Kan 
tonsgrenzen hinaus stärkten. Dabei wurde, so die 
These Altermatts, die italienischsprachige Minder 
heit über religiös-politische Loyalitäten in den schwei 
zerischen Nationalstaat integriert. Damit konsta 
tiert er für die Schweiz ein Gegenbeispiel zur allge 
meinen europäischen Entwicklung und verweist da 
bei auf Fälle wie beispielsweise das Südtirol oder 
Transsilvanien. 
Den schon im Buch «Katholizismus und Moder 
ne» im Jahr 1989 festgestellten Wandel von Menta 
litätsstrukturen innerhalb des schweizerischen Ka 
tholizismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts 
greift Altermatt unter anderem in seinem Kapitel 
zur katholischen Geschichtsschreibung und Ge 
schichtskulten nochmals anhand herausragender 
Ereignisse auf. Die Entfremdung breiter Bevölke 
rungsschichten von der institutionellen Kirche und 
von Rom erklärt er nicht nur mit einem allgemein 
stattfmdenden gesellschaftlichen Mentalitätswan- 
del. Einen zunehmenden «antirömischen Affekt» 
(S. 227) im Zuge des allgemein stattfindenden Men 
talitätswandels veranschaulicht er anhand ausge 
wählter Beispiele wie der Hochhuth-Debatte in den 
1960er Jahren oder im für Liechtenstein besonders 
relevanten Kapitel zur «Haas-Affäre» (S. 251-254). 
Die Ernennung von Wolfgang Haas zum Weihbi 
schof von Chur im Frühling des Jahres 1988 und die 
damit nach Experten durch den amtierenden Papst 
Johannes Paul II. erfolgte Verletzung des Völker 
rechts, indem «innerkirchlich relevante Zusiche 
rungen nicht eingehalten und Verfahrensregeln 
missachtet» (S. 251) wurden, beschreibt Altermatt 
als gesellschaftliche «kirchenpolitische Protestwel 
le» (S. 251), wie sie die Schweiz seit dem Kultur 
kampf im 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt habe. 
Bezeichnet Altermatt die Debatten um Stephan 
Pfürtner und Hans Küng noch als hauptsächlich eli 
täres Phänomen, vermerkt er für den Fall Haas die 
Erfassung der breiten Massen von dieser rom-kriti 
schen Haltung, welche die «Entfremdung weiter Ka 
tholikenkreise von der Kirche als Institution und da 
mit vom Papst» (S. 253) förderte. 
Der Historiker Urs Altermatt beschreibt in sei 
nem Buch auf anschauliche und mit zahlreichen 
Beispielen unterlegte Art und Weise das enge Bezie 
hungsgeflecht von Religion und Nation. Er durch 
leuchtet dabei religiöse und nationale Identifikati 
onsfaktoren, wobei er im Schlusskapitel feststellt, 
wie sich nicht nur religiöse Identifikationsformen 
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu modifizie 
ren und aufzulösen begannen, sondern mit einer zu 
nehmenden Individualisierung und Pluralisierung 
der Gesellschaft auch eine gleichzeitige Erosion na-
	        

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