GESCHICHTE DES LAIENRICHTERTUMS IN
LIECHTENSTEIN / ALOIS OSPELT
103
des Volkes. Die Gerichtsbarkeit wurde immer im
Auftrag der Herrschaft wahrgenommen. Das Recht
wurzelte in der Gemeinschaft des Volkes und wurde
auch dort gesucht.
Gerichtsorganisation vom 16. bis 18. Jahr
hundert - alte Landammannverfassung
Die Gerichtsorganisation vom 16. bis 18. Jahrhun
dert, bezeichnet als alte Landammannverfassung,
zeigte folgendes Bild: Die Grafschaft Vaduz und die
Herrschaft Schellenberg bildeten je eine Gerichts
oder Landsgemeinde. Jeder stand ein Landammann
vor, der alle zwei Jahre von den waffenfähigen Män
nern aus einem Dreiervorschlag der Herrschaft ge
wählt wurde. Der Ammann führte die Gerichtsver
handlung. Neben ihm übten zwölf Urteilssprecher
(Richter) die Funktion von Geschworenen aus. Sie
wurden aus einem Dreiervorschlag der Landsge
meinde von der Herrschaft auf Lebenszeit ernannt.
Später erfolgte der Vorschlag für eine Ersatzbestel
lung durch die verbliebenen Richter. Recht und Ur
teil wurden vom Landammann von den beisitzen
den Urteilssprechern erfragt, die das Urteil fassten.
Das Gerichts- und Beweisverfahren war öffentlich
und mündlich und garantierte so die Rechtssicher
heit. Dadurch dass das Volk als Zeuge zugegen war,
wurde der Anspruch an die Richter auf eine gerech
te Urteilsfindung erhöht. Im Rahmen der Gerichts
gemeinden war die Bevölkerung an der Handha
bung des Rechtswesens beteiligt.
Andere Gerichtsformen neben dem
Landammanngericht
Das Landammanngericht wurde durch andere Ge
richtsformen konkurrenziert. Die Landesherren als
Inhaber der Gerichtshoheit konnten auch allein
Recht sprechen. Ihre Herrschaftsbeamten hielten
zusammen mit dem Landammann Verhörtage ab,
auf denen auch gerichtliche Entscheidungen getrof
fen wurden. Ebenfalls von gewisser Bedeutung wa
ren das kaiserliche Landgericht in Rankweil und das
geistliche Gericht des Offizialats in Chur. Die
Schiedsgerichtsbarkeit bot der Bevölkerung eine
weitere Möglichkeit der Selbstregelung und der Be
teiligung an der Rechtssprechung. Eine Vermittler
funktion hatten auch die lokalen Gemeindege
schworenen.
Einschränkung der Volksbeteiligung am Gerichts
wesen im 17. und 18. Jahrhundert
Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Volksbeteili
gung am Gerichtswesen nach und nach einge
schränkt. Anstelle der öffentlichen Verfahren unter
freiem Himmel wurden die Verhörtage im geschlos
senen Amtszimmer zur dominierenden Gerichts
form. Der Inquisitionsprozess löste das öffentliche
und mündliche Verfahren ab. Nach der Erhebung
zum Reichsfürstentum 1719 wurde Liechtenstein in
sechs Ämter geteilt. Jedes erhielt einen Amtmann,
vier Richter und einen Gerichtsschreiber, die jedoch
nur in geringem Mass richterliche Funktionen
wahrnehmen sollten. Sie konnten in bürgerlichen
Streitigkeiten zwischen den Gemeindebewohnern
und in geringeren Übertretungsfällen entscheiden.
Die Appellation ging an das Oberamt und von da an
den Landesfürsten. Die Untertanen wehrten sich ge
gen die Neuordnung und suchten, ihre alten Privile
gien wieder zu erlangen. 1733 machte ihnen der
Landesherr gewisse Zugeständnisse in der Form ei
ner reduzierten Landammannverfassung. Danach
hatte der Landammann noch Beisitz beim Blutge
richt und bei den Verhörtagen, jedoch ohne Stimm
recht. Anstatt des früheren Zeitgerichts durften
Landammann und Richter nur mehr ein minder
wichtiges Frevelgericht halten. Alle übrigen richter
lichen Funktionen lagen beim Oberamt. Der Ein
fluss der Landesherrschaft auf die Rechtssprechung
nahm stark zu. An die Stelle der Laien im Ammann
gericht traten vermehrt die juristisch gebildeten
Herrschaftsbeamten. Die Rechtssprechung unter
der Linde lebte, inhaltlich weitgehend ausgehöhlt,
lediglich noch der alten Form nach bis ins beginnen
de 19. Jahrhundert fort.
317) Kohlegger, Gerichtshof, S. 150.
318) Kohlegger, Rechtsordnung, S. 46.
319) Bizozzero, S. 66.