Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2009) (108)

DIE ANFÄNGE DES SELBSTSTÄNDIGEN VORARLBERG GERHARD WANNER arlberg bei Nahrungsmittelmangel soziale Unruhen ausbrechen könnten, die man auch deshalb verhin- dern wolle, weil sie dem Bolschewismus Vorschub leisteten. Aber auch die Schweizer Bevölkerung übte Druck auf die Berner Regierung aus, es sei die mora- lische Pflicht der Schweiz, der dem «Hungertod preisgegebenen Bevölkerung Vorarlbergs» zu hel- fen.127 Die Schweiz stellte für ihre Lieferungen klare Be- dingungen: Für diese musste bezahlt werden, mit Valuten, die Vorarlberg freilich kaum besass, oder mit Kompensationswaren, wie Holz, Heu, Streue, Pferde und Alteisen ausgedienter Stickmaschinen. Die Lebensmittellieferungen konnten jederzeit ein- gestellt beziehungsweise reduziert werden, falls in Vorarlberg Unruhen ausbrächen oder ententefeind- liche Truppen einmarschierten.128 Die Lieferungen von Mehl und Brot erfolgten nach den Schweizer «Mittelrationen»: Pro Kopf und Tag waren dies 190 gMehl und 30 g Reis. Überwacht wurde die Ver- teilung durch Major Emil Stingelin, Schweizer Stabsoffizier im Instruktionskorps der Verpfle- gungstruppen. Die Nahrungsmittel stammten aus Schweizer Beständen, die wiederum von der Zulie- ferung durch die Entene abhängig waren. Die Basis für diese Regelungen war ein Treffen von konsularischen Vertretern der Entente am 18. November im Landhaus Bregenz mit Landeshaupt- mann Otto Ender. Bei diesem Treffen nahmen auch britische und amerikanische Diplomaten teil. Wich- tig war, dass die USA den Entente-Lieferungen zu- stimmte. Bereits am 29. November 1918 kam mit dem eidgenössischen Ernährungsamt in Bern die obenstehende Abmachung zustande, die von nun an über Monate die Lebensmittelversorgung Vorarl- bergs sicherstellte.129 Eine wesentliche Erleichterung der Einfuhren brachte die Zusage des deutschösterreichischen Staatsamtes für Volksernährung, die Beschaffung von Valuten für die Mehl- und Broteinkäufe zu über- nehmen.130 Im Herbst 1918 grassierte in Vorarlberg die soge- nannte, höchst ansteckende «Spanische Grippe». Sie war von der Schweiz aus im August 1918 nach Vorarlberg eingeschleppt worden. Die Inkubations-zeit 
dauerte maximal zwölf Stunden, der Tod konnte nach drei Tagen eintreten. Anfänglich hielt man die Krankheit für die gefürchtete «Lungenpest».131 Rund 500 Todesopfer fordernd, konnte sie sich nur unter den speziellen Ernährungsverhältnissen so rasch und allgemein ausbreiten: Die «Vorarlberger Wacht» Ende November 1918 dazu: «Der Sensen- mann macht gegenwärtig reiche Ernte, bei dem ihm ziemlich viele junge Menschen zum Opfer fallen. Be- sonders das weibliche Geschlecht lässt er nicht ver- schont, denn in letzter Zeit hat er es auch auf blut- junge Mädchen abgesehen, die in den schönsten Jahren sterben ... Wie wäre es, wenn man dem Vol- ke früher schon mehr Fett und gutes Mehl gegeben hätte? Dann wäre es mit der Krankheit wohl nicht so weit gekommen. Aber in unserem Staate lässt man das arme Volk hungern, während die Reichen sich doppelt und dreifach versorgen können».132 Gegen die Grippe, die sehr häufig mit einer Lun- genentzündung endete, liess sich nicht viel unter- nehmen. Zwar veröffentlichte der «Vorarlberger Volksfreund» am 8. November auf der Titelseite Rat- schläge, wie man sich vor dieser Krankheit schützen 116) 2. La, 9. November 1918, S. 11. 117) 3. La, 3. Dezember 1918. S. 17 f. 118) FA, 13. November 1918. 119) VW, 24. November 1918. 120) 2. La, 9. November 1918, S. 17 und 24; 3. La, 3. Dezember 1918, S. 18. 121) 3. La, 3. Dezember 1918, S. 19. 122) 2. La, 9. November 1918, S. 13. 123) WF, 20. November 1918. 124) 3. La, 3. Dezember 1918, S. 17. 125) 3. La, 3. Dezember 1918, S. 26. 126) WF, 15. November 1918. 127) Böhler 1990, S. 43. 128) 2. La. 9. November 1918, S. 16. 129) Wolf, S. 15-18. W, 19. November 1918. 130) Böhler 1990, S. 46. 131) Wanner 1999, S. 32. 132) VW, 21. November 1918. 87
	        

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