Siebzig Jahre später: Titelbild des «Vorarlberger Volksboten» vom März 1989 mit einem humoristi- schen Rückblick auf die Vorarlberger Bestrebungen von 1919, als eigener Kan- ton Teil der Schweiz zu werden.
schlechte Erfahrungen gemacht. Mitentscheidend für die Ablehnung war aber wohl das scharfe Vorge- hen der Berner Regierung gegen die sozialistische Arbeiterschaft im Zusammenhang mit dem landes- weiten Arbeiterstreik. Andererseits war ein Gross- teil der sozialdemokratischen Wählerschaft aus wirtschaftlichen Gründen für einen Anschluss an die Schweiz.40 Entgegen der immer stärker werdenden Volksbe- wegung für den Schweizer Anschluss lehnten einen solchen auch die Grossdeutschen (Deutschnationa- le, Deutschfreisinnige) ab. Ihre Partei kam zur An- sicht, «dass unser deutsches Land vor dem Arlberge und sein urdeutsches Volk der deutschen Ostmark, mit der uns eine vielhundertjährige Geschichte ver- bindet, treu zu bleiben habe».41 Auch hätten die deutschen Vorarlberger «während des Krieges ver- stärkt deutsch fühlen und denken gelernt. Und was in Blut und Eisen in uns hineingewachsen ist, wird nicht so schnell verschwinden».42 Hinter dieser klei- nen Partei standen vor allem die mächtigen Vertre- ter von Industrie und Handel, die im grossen deut- schen Wirtschaftsraum weit bessere Möglichkeiten sahen als in der von Schutzzöllen isolierten Schweiz, die ausserdem eine konkurrenzstarke Textilindus- trie aufwies.43 Dass eine grosse Kluft zwischen den herrschen- den Wirtschafts- und Politikereliten und dem «Volkswillen» vorhanden war, bewiesen zwei Ple- biszite: Am 19. Dezember 1918 wurde von den drei Grenzgemeinden Höchst, Fussach und Gaissau ge- meldet, dass sich deren Einwohner (Stimmberech- tigte) zu 98 Prozent für einen Anschluss an die Schweiz ausgesprochen hatten. Und am 29. Jänner 1919 legte Riedmann sein landumfassendes Unter- schriftenergebnis vor: Zirka 71 Prozent der Vorarl- berger Wähler hatten sich für die Schweiz ausge- sprochen.44 70