DIE GRENZREGION GRAUBÜNDEN AM ENDE DES ERSTEN WELTKRIEGS / MARTIN BUNDI auch dem Kriegsdienst. Als dieser seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr attraktiv war und ver- boten wurde, gewann die gewerblich-kommerzielle Auswanderung noch mehr an Bedeutung. Seit der «Vertreibung» der Bündner aus Venedig 1766 rich- tete sich das Interesse zunehmend nebst dem übri- gen Italien und Frankreich auch auf Nord- und Ost- europa. Unter anderem gründeten Bündner Emi- granten im Gebiet des ehemaligen russischen Kai- serreichs zahlreiche blühende Unternehmungen in den Sektoren der Gastwirtschaft und der Luxusnah- rungsmittelindustrie. Der Höhepunkt
bündnerischer Auswanderung war um 1850 (bis zirka 1890), in einer Epoche, die als die Zeit des «Pauperismus» bezeichnet wird. Grosse Armut zwang ganze Familien auch zur Aus- wanderung nach Übersee. Im Gegensatz zur bishe- rigen periodischen Auswanderung, bei der immer wieder Emigranten und ihre Vermögen in die Hei- mat zurückkehrten, blieb die überseeische Auswan- derung im allgemeinen ohne namhaften Ressour- cenrückfluss. Um 1900 waren diverse Emigranten auf dem europäischen Kontinent dank dem gewalti- gen technischen und industriellen Aufschwung zu Wohlstand und Reichtum gelangt. Der Erste Welt- krieg machte manchen ihrer Unternehmungen ein brüskes Ende, brachte deren Inhaber in Armut und zwang sie zur Rückkehr in die Heimat. Beim Zusam- menbruch des russischen Zarenreichs 1917/1918 und dem Aufkommen der kommunistischen Sowjet-herrschaft
in Russland verloren mehrere Emigran- ten Gut und Leben.15 Im Jahre 1918 erfolgte eine
organisierte Rück- führung von Schweizern aus der Sowjetunion. Bis 1920 brachten fünf vom Bundesrat organisierte Heimschaffungszüge in Sammeltransporten mehre- re Hunderte von Emigranten mit ihren Familien in die Schweiz zurück. Von der Bündner Kolonie in Russland kehrten die meisten in den ersten sechs Jahren (1918-1924) heim; bis 1945 betrug die Zahl der insgesamt Heimgekehrten 127 Berufstätige, was mitsamt ihren Familien einer Zahl von 400 Per- sonen entsprach. Im Vergleich mit der übrigen Schweiz und besonders mit anderen europäischen Ländern war Graubünden mit seiner Emigranten- zahl gesamthaft gesehen nicht übermässig vertre- ten. Verarmt und niedergeschlagen, wie viele wa- ren, bildeten manche Rückkehrer für die Heimatge- meinde eine finanzielle Belastung. Die Situation der Heimkehrer schilderte Roman Bühler in seinem Buch über «Bündner im Russischen Reich» wie folgt: «Die Schweizer kehrten alle bettelarm aus Russland zurück. Die Ausfuhr von Wertgegenstän- 14} Verhandlungen des Grossen Rates von Graubünden: 1920, 30. Januar. S. 174-176. Bündner Kantonsbibliothek. - Quellen, funtau- nas, fonti, S. 268. 15) Bühler, Roman: Bündner im Russischen Reich, S. 427 f.: Das Ende der Bündner Kolonie im Zarenreich. - Metz, Geschichte des Kantons (wie Anm. 3), Die Heimkehr der Auslandbündnor, S. 44 f. Die Rückkehr der Bündner aus Russland von 1918 bis 1945
Jahr Anzahl
Kum. %
Bemerkungen 1918
20
15,7
1. und 2. Heimschaffungszug 1919
8
22,0
3. Heimschaffungszug 1920
32 47,2 4. und 5. Heimschaffungszug 1921 18
61,4
Beginn der Neuen Ökonomischen Politik 1922 4 64,6 1923 3 66,9 1924 5 70,9 1925 bis 1929
6 75,6
Kollektivierung / 1. Fiinfjahresplan (1928) 1930 bis 1934
8 81,9
«Russifizierung» 1935 bis 1939
12 91,3
«Säuberungen» 1940 bis 1945
11 100,0
Zweiter Weltkrieg Total
127 Berufstätige 125