Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2009) (108)

Leonhard Ragaz beigetragen. Es zeugte von einer damals offenen und solidarischen Haltung des Berg- kantons - im Gegensatz zu seinem Negativvotum 2002 bei der Beitrittsfrage zur UNO! Mit dem Beitritt zum Völkerbund beschritt die Schweiz den Weg der 
sogenannten «differenziellen Neutralität». Diese wurde aber nur während 18 Jahren beibehalten. Auf Drängen des späteren Aus- senminsters, des konservativen Tessiners Giuseppe Motta, eines erklärten Freundes des faschistischen Italiens, Hess sich der schwächelnde Völkerbund herbei, die Schweiz 1938 von wirtschaftlichen Sanktionen zu dispensieren. Da die Schweiz 1945 der UNO nicht beitrat, verblieb sie in der Folge bei ihrer sogenannten «integralen Neutralität». Erst 1991 gab sie diese in Zusammenhang mit dem Golf- krieg der UNO gegen den Irak und mit den dabei verfügten wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Aggressor auf und befindet sich seitdem wieder auf dem Pfad der «differenziellen Neutralität». Bundesrat Calonder war zum Zeitpunkt der Volksabstimmung nicht mehr im Amt. Kurz zuvor hatte er demissioniert.8 Als Gründe hatte er Überan- strengung und gesundheitliche Aspekte genannt, was aber angesichts seiner sonst eisernen Gesund- heit nicht sehr plausibel klang. Als eigentliche Be- weggründe betrachtet die Geschichtsschreibung heute einerseits die Tatsache, dass der Bundesrat im entscheidenden Abstimmungsjahr 1920 das poli- tische oder Aussendepartement nicht ihm, sondern Motta übertrug, was Calonder als eine Kränkung empfand; anderseits scheint ihm auch seine isolier- te Haltung in der sogenannten Vorarlberger Frage stark zugesetzt zu haben. Vorarlberg wurde am Ende des Weltkrieges, nach schweren Verlusten Österreichs, von Hunger und grosser Not heimgesucht. Es besann sich nun auf die einstige Verbundenheit mit der Schweiz und na- mentlich mit Graubünden, und so kam der Wunsch in der Bevölkerung auf, einen Anschluss an die Schweiz zu finden. In einer Volksabstimmung am 11. Mai 1919 sprachen sich über 80 Prozent (45 000 Stimmen) für einen solchen Anschluss aus. - Bun- desrat Calonder unterstützte dieses Anliegen. Er als 
Bündner und Romane war sich der einstigen Zuge- hörigkeit Vorarlbergs zur churrätischen Geschichte und Kultur bewusst, und er konnte die Ängste vieler Schweizer vor einer Gefahr des Deutschtums in der Schweiz nicht teilen. Im Bundesratsgremium begeg- nete seinem Plan in erster Linie Bundesrat Motta mit Widerstand, der vor einer Verstärkung des ale- mannischen Übergewichts in der Schweiz warnte - während viele seiner konservativen Parteigenossen den Anschluss aus konfessionellen Gründen be- grüssten. Ferner lehnten mehrere Bundesräte den Anschluss aus prinzipiellen Gründen ab: sie waren gegen jede territoriale Erweiterung der Schweiz ein- gestellt. - So führte die Initiative Calonders im Bun- desrat zu einem Zickzackkurs (nur der neugewählte Bundesrat Robert Haab unterstützte ihn), und eine anschlussfreundliche Rede Calonders im Ständerat blieb ohne Wirkung. Insgesamt scheiterte das An- schlussbegehren einerseits an der Zurückhaltung der Schweiz aus politischen, wirtschaftlichen, sprachlichen und konfessionellen Bedenken und anderseits am Nein aus St-Germain bei Paris; der dortige Friedenskongress lehnte die Vorarlberger Forderung aus Rücksicht auf die territoriale Integri- tät des bereits durch den Verlust des Südtirols stark geschwächten Österreich ab.9 Auf Calonder aber blieb der Vorwurf des zu schnellen Vorprellens und isolierten Vorgehens haften. ÄNDERUNGEN IN DER PARTEI- POLITISCHEN LANDSCHAFT Wie sich neue parteipolitische Konstellationen in der Schweiz unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herausbildeten, so geschah dieses, zum Teil anders gelagert, auch in Graubünden. Die Nationalrats- wahlen im Oktober 1919, die erstmals nach dem Proporz durchgeführt wurden, führten zu einer we- sentlichen Verstärkung bisheriger Minderheitspar- teien, insbesondere der Sozialdemokraten, die ihre Sitze von 20 auf 41 erhöhten; auch die Katholisch- Konservativen legten zu, und eine neugegründete Bauern- und Bürgerpartei kam auf 28 Sitze. Der Zu- wachs ging fast ausschliesslich auf Konto der Frei- 120
	        

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