Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2009) (108)

DIE GRENZREGION GRAUBÜNDEN AM ENDE DES ERSTEN WELTKRIEGS / MARTIN BUNDI derungen an eine ehrliche Neutralität und ander- seits die Solidarität mit dem Völkerbund» erfüllen. Gegner eines schweizerischen Beitritts operierten damals vor allem mit dem Neutralitätsstatus. Nun war es dem Bundesrat gelungen, in einem soge- nannten Londoner Zusatzprotokoll, die Schweiz von eventuellen kriegerischen Aktionen des Völkerbun- des auszunehmen; der Beitritt sah aber vor, dass sich die Schweiz an wirtschaftlichen Sanktionen der Völkerorganisation beteiligen würde. Selbst mit die- ser Fassung ging die Vorlage einem Teil der Gegner zu weit. Calonder argumentierte gegenüber solcher Skepsis, dass es gegen Treu und Glauben verstiesse, wenn die Schweiz die Massnahmen, welche der Völ- kerbund gegen Rechtsbrecher beschliesse, durch- kreuzen wollte. Er betonte auch, dass es eine Ehre für die Schweiz sei, dass der Völkerbund Genf zum Sitz seiner Organisation auserkoren habe. Für diese Ehre und das Vertrauen in die Schweiz gelte es durch echte Solidarität sich würdig zu erweisen. Aber er präzisierte in diesem Zusammenhang: «Wir gehen nicht betteln um Gunst und Freundschaft bei anderen Staaten, aber wir sollen uns auch nicht er- haben dünken über internationale Freundschaften, wir dürfen uns nicht als das auserlesene Volk wäh- nen, das hoch über den anderen Völkern steht».7 Die Volksabstimmung über den Beitritt zum Völ- kerbund am 16. Mai 1920 fiel relativ knapp aus (416 870 Ja zu 323 719 Nein 
- l\Vz gegen 10V2 Stän- de). Für ein Ja brauchte es sowohl das Stimmen- als auch das Ständemehr. Graubündens Ja-Resultat, das als letzte Standesstimme nach einem vorheri- gen Patt eintraf, war schliesslich entscheidend. Das Eintreffen des positiven Resultats aus Graubünden in Genf soll dort am betreffenden Abend einen unbe- schreiblichen Freudentaumel ausgelöst haben. Zum positiven Ergebnis ihres Heimatkantons hatten nicht zuletzt die Argumentationen der beiden Landsleute Bundesrat Felix Calonder und Professor 
ZEITTAFEL: DER SCHWEIZER NEUTRALITÄTS- REGRIFF IM WANDEL 1815 Der Wiener Kongress gewährleistet die «im- merwährende Neutralität der Schweiz» und die Unverletzlichkeit ihres Gebietes. Seit zirka 1860 Die Schweiz versteht ihre aussenpolitische Maxime als «immerwährende bewaffnete oder integrale Neutraltiät». 1919 Beitritt zum Völkerbund und Verpflichtung, sich an dessen wirtschaftlichen Sanktionen gegen Aggressoren zu beteiligen = «differen- zielle Neutralität» 1938 Der Völkerbund befreit die Schweiz auf deren Wunsch von wirtschaftlichen Sanktionen. Wiederum Status der «integralen Neutralität» 1991 Anlässlich des Irakkrieges der UNO gegen den Aggressor Saddam Hussein vollzieht die Schweiz deren wirtschaftliche Sanktionen im Einklang mit der ganzen Völkergemeinschaft. Seitdem befindet sie sich wiederum im Stadi- um der «differenziellen Neutralität» 6) Brassel, Ruedi; Spieler, Willy (Hrsg.): Leonhard Ragaz. Eingriffe ins Zeitgeschehen, S. 103: Zürcher Generalstreik von 1912; S. 122: Generalstreik von 1918. 7) Nationalratsprotokoll der Bundesversammlung 1918. 119
	        

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