Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2008) (107)

LIECHTENSTEIN IN ALTEN SCHILDERUNGEN NORBERT W. HASLER DER TAG, AN DEM SICH LIECHTENSTEIN ZUR SCHAU STELLTE Als ich erwachte, hatte das Plätschern des Wassers im Steintrog ausserhalb meines Fensters einen rei- neren Klang, als ob es nicht mehr länger ein Rivale der Dachrinnen beziehungsweise der Grundton ei- nes allgemeinen Wassergusses war. Der Himmel, wie ich ihn bereits vom Bett aus erblickte, zeigte ein Pfauenblau mit schwarzen Fetzen. Meine Brille, welche diese kurzsichtige Illusion ihres Geheimnis- ses beraubte, verringerte nicht die Schönheit des Anblicks. Es war die typische Morgendämmerung auf alpi- nem Weideland, wie sie sich jenseits des Rheins of- fenbarte. Was mir von den Bergspitzen vermittelt wurde war das Profil Liechtensteins, das seinen Schatten bis in die Entfernung mehrerer Meilen auf die östliche Flanke der Schweiz geworfen hatte. Die schwarzen Fetzen waren Chalets und eine Ortschaft auf dem Hügel. Die Wettergötter hatten mein unge- höriges Verhalten übersehen, dennoch meine He- rausforderung akzeptiert und für heute perfekte Verhältnisse geschaffen. Das fröhliche Mädchen, das Schokolade und Brötchen gebracht hatte, spürte offenbar meinen Drang in die Natur; niemals zuvor war das Früh- stück so umgehend serviert worden. Das Wetter lo- bend steckte das Mädchen seinen billigen spani- schen Kamm, geschaffen zum Entwirren von Haar- flechten, noch tiefer in ihr blondes Haar. Obwohl das direkte Sonnenlicht Vaduz erst in zwei Stunden erreichen würde, waren schon alle Nachbarn unterwegs. Der kleine Freund mit den blauen Augen, dem es schon bei meinem ersten Tag in Liechtenstein ebenso wie mir gefallen hatte, von einem der aus Messing geformten Wasserspeier zu trinken, sprang nun vom Rand des Steinbrunnens, so dass ich meinen Hals schon vor meiner Wande- rung netzen konnte. «Es ist ein wunderbarer Tag um zu fotografie- ren», verkündete der Dorffotograf, der aber noch anderen Beschäftigungen nachging, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er beneidete mich um meine Fotokamera. 
«Noch kein Brief ist von Ihrer Frau gekommen», sagte das Mädchen beim Postamt als Antwort auf meine zwar nicht ausgesprochene, aber durch mei- nen flüchtigen Blick dennoch gestellte Frage. Das Mädchen antwortete als Privatperson, gab es doch keine offiziellen Öffnungszeiten beim Postamt. Nach einem zehnminütigen Aufstieg erreichte ich das erste Plateau, mit Blick auf das Schloss, welches so steil über dem Dorf hängt, dass man von seiner Zugbrücke die Hauptstrasse nicht mehr sieht, weil herrliche Rotbuchen und Eichen den Zickzackweg säumen und den Blick nach unten verstellen. Da- raufhin erreicht man den breiten Fahrweg, zu dem dieses bewaldete Durcheinander führte, und nach einer abgeholzten Waldlichtung taucht der Weg wie- der tiefer ein in den feuchten, kühlen Schatten des Waldes. Ein- oder zweimal auf dem Weg zum Wildschloss, wenn man geradeaus hinunterschaut auf die sma- ragdgrüne Versorgungszisterne für ein elektrisches Kraftwerk, zeigt eine Baumlichtung auf raues Berg- gras. Das niederkommende Sonnenlicht, welches über das Tal hinweg langsam näher kriecht, hat ge- rade erst den Rhein erreicht. Die Luft ist immer noch erfrischend kühl. Nach einem Aufstieg von eineinviertel Stunden Dauer enthüllt eine Waldlichtung das zweite Pla- teau, dessen raues Felsengesicht auf der Westseite durch riesige Bäume verdeckt wird. Die obere Flä- che dieses Plateaus ist in sanftestem Grün gestaltet. Es gibt hier eine Traube von Häusern rund um einen Einzelhof; abseits davon befinden sich Kartoffelfel- der, geschmückt mit malvenfarbigen und weissen Blumen. EIN VON NEBELSCHWADEN BEEIN- TRÄCHTIGTES PARADIES Dann geht es zurück in den Wald, weiter und weiter hinauf, bis ich das Kurhaus (Sanatorium) auf Gaflei erreiche. Die Kurgäste, die gerade erst ihr Früh- stück einnehmen, schauen mit Erstaunen auf je- manden, der so früh von Vaduz aus hoch gewandert ist. Einige von ihnen bereiten sich für ihre Wande- 233
	        

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