Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

SCHLUSSBETRACHTUNG Unsere souveränitätspolitische Tour d'horizon hin- terlässt eine gewisse Ratlosigkeit. Die inhaltlichen Ausprägungen dieses Begriffs scheinen zuneh- mend zu verschwimmen. «Souveränität» ist - und war schon immer - ein Paradebeispiel für das, was der Sozialphilosoph Walter B. Gallie als ein «essen- tially contested concept» bezeichnet hat.131 Historisch gesehen hat die Souveränität fünf Funktionen gehabt: 1. Beim Übergang vom Feuda- lismus zum Territorialstaat diente der Begriff zur Abwehr konkurrierender äusserer Ansprüche sei- tens des Kaisers und der Kirche und zur Rechtferti- gung der Zentralisierung der Staatsgewalt gegen- über dem Adel, den Ständen und freien Städten im Inneren. 2. In den neuzeitlichen Territorialstaaten kreiste die Debatte darum, ob und wem die recht- mässige Souveränität zukomme. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich allmählich das Prinzip der Volkssouveränität gegenüber den monarchischen oder aristokratischen Alternativen durchgesetzt. 3. In der klassischen Ära des Völkerrechts diente die Souveränität als Leitprinzip beim Aufbau und Ma- nagement der internationalen Ordnung. 4. In den modernen Internationalen Beziehungen und insbe- sondere im Rahmen der Dekolonialisierung wurde die Souveränität zur Schutzklausel der schwäche- ren gegenüber den stärkeren Staaten. 5. Gegen- wärtig scheinen sich Tendenzen abzuzeichnen, die auf die Stärkung der Gemeinschaftsidee sowohl im globalen als auch im regionalen Rahmen hindeuten und mit der Entstehung eines Völkerrechts der Ver- antwortlichkeit einhergehen. Die Souveränitätskonzeption ist im Laufe der Geschichte einem kontinuierlichen Wandel unterle- gen. Dabei liess sich eine stete Zurückdrängung der absoluten zugunsten einer relativen Souveränitäts- auffassung beobachten. In diesem Prozess ist der «Panzer der Souveränität»132 aufgebrochen wor- den, und das zulässige Mass der souveränitätsver- träglichen inneren und äusseren Bindungen staatli- cher Macht hat stark zugenommen. Das koordina- tive Völkerrechtsverständnis der klassischen Epo- che wurde von einem kooperativen abgelöst. Indes-sen 
ist an die Stelle des ius ad bellum eine umfas- sende Friedenspflicht getreten, und das staatszen- trierte Bild der Souveränität wurde durch die Aus- dehnung der Völkerrechtssubjekte und den Men- schenrechtsschutz aufgefächert. Während in der Völkerrechtslehre die - gegen- über der klassischen Periode zwar verminderte - Bedeutung des Souveränitätskonzepts unbestritten ist, wird im Rahmen der politikwissenschaftlichen Diskussion die Nützlichkeit dieses Konzepts ver- mehrt in Frage gestellt. Angesichts der Verabsolu- tierung des territorialstaatlichen Aspekts kollidiert die Souveränität mit weltgesellschaftlichen Postula- ten und den modernen Formen des internationalen Managements (governance). Auch in der Innenpoli- tik erscheint die Bedeutung der Souveränität durch die gewandelte Rolle des Staates vom obrigkeit- lichen zum partnerschaftlichen Herrschaftsver- ständnis als fragwürdig. Die Entwicklungen im Kampf gegen den Terrorismus zeigen jedoch, dass zumindest die USA und auch die anderen Gross- mächte auf die Wahrung ihrer Souveränität be- dacht sind. Dies mag zwar das partnerschaftliche Element des modernen Völkerrechts schwächen, aber nicht die Bedeutung der Souveränität. Für die Vertreter der (neo-)realistischen Schule der Inter- nationalen Beziehungen steht der Stellenwert der Souveränität ohnehin ausser Zweifel. Somit lässt sich das Fazit ziehen, dass Totgesagte länger zu le- ben pflegen und dem Begriff der Souveränität noch eine lange Karriere sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs gewiss sein dürf- te.133 131) Solche Begriffe sind essentiell umstritten, weil niemals ein Kon- sens über ihre korrekte Anwendung erreicht werden kann: «A con- cept is essentially contested if it has no Single definition, ränge of reference, and criteria of application upon which all competent Speakers can agree» (Gallie 1956, S. 176). 132) Müller-Wewel 2003. S. 330. 133) Falk 2001, S. 791. 72
	        

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