Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

Dabei steht der «harte Kern» des Europarechts als eine Rechtsmasse eigener Art «zwischen» dem na- tionalen Recht der Mitgliedstaaten und dem Völ- kerrecht. In den Bereichen, in denen die Mitglieder ihre Kompetenzen an die Union abgetreten haben, geht das Gemeinschaftsrecht den mitgliedstaatli- chen Regelungen vor. Dabei unterstreichen die selbständigen Handlungsmöglichkeiten der EU-Or- gane (notfalls mit Mehrheitsentscheidungen) die Eigenständigkeit, die der Gemeinschaft gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten zukommt.94 Eine der- artig starke völkerrechtliche Bindung ist nur ver- einbar mit der Souveränität, weil die Mitgliedstaa- ten gemäss Artikel 48 des Vertrages über die Eu- ropäische Union95 weiterhin «Herren der Verträge» bleiben. Da die EU selbst auf verschiedenen völker- rechtlichen Verträgen beruht, die von den Vertrag- steilnehmern freiwillig eingegangen wurden, sind die Verträge - im Prinzip - auch kündbar. Aus die- sem Grunde erfolgt eine allfällige Übertragung der Souveränitätsrechte nur so lange, wie es dem Wil- len des betreffenden Mitgliedstaates entspricht. Da- neben setzt auch das Demokratieprinzip einer allzu weitgehenden Integration Grenzen, müssen doch substantielle Bereiche und Aufgaben bei den Mit- gliedstaaten verbleiben.96 DIE ESSENZ DER MODERNEN SOUVERÄNITÄTSKONZEPTION Nach der Darstellung der unterschiedlichen sou- veränitätsrelevanten Aspekte des modernen Völ- kerrechts sollen an dieser Stelle die verschiedenen Entwicklungslinien zusammengeführt und die Es- senz der modernen Souveränitätskonzeption her- ausgearbeitet werden. Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der neuen Souveränitätskonzeption liegen im ambivalenten Wesen der Souveränität, welche sich im Spannungsfeld zwischen Recht und Macht befindet. Dies führt dazu, dass - je nach Standpunkt der Beobachterin oder des Beobach- ters - ein und dasselbe Phänomen absolut unter- schiedlich bewertet werden kann. Das moderne Völkerrecht lässt sich einerseits als neues Stadium 
der internationalen Beziehungen deuten, welches den Übergang vom Koordinations- zum Kooperati- onsrecht markiert. Andererseits kann aber die Exis- tenz des Völkerrechts mit dem Argument, eine be- stimmte internationale Ordnung spiegle bloss die aktuelle Machtverteilung und die Interessen der dominierenden Grossmächte in einem System wi- der, in Frage gestellt werden. Diese Widersprüche lassen sich nicht gänzlich ausräumen. Deshalb soll im Folgenden zunächst die normative Souveräni- tätskonzeption, wie sie sich aus der Entwicklung des Völkerrechts herleiten lässt, skizziert und an- schliessend auf die entgegenstehenden Positionen verwiesen werden. Auch im modernen Völkerrecht spielt die Sou- veränität eine wichtige Rolle. So gründet etwa die UNO explizit auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten. Diese umfasst u.a. die territoriale Integrität, politische Unabhängig- keit und ein Interventionsverbot. Überdies impli- ziert die Tatsache, dass nur Staaten Mitglied der UNO werden können, dass diese, trotz der zuneh- menden Zahl der nicht-staatlichen Völkerrechtsub- jekte, auch weiterhin als die wichtigsten Akteure im Völkerrecht anzusehen sind. Auch das Prinzip, dass Völkerrecht nur durch Konsens zwischen den Staaten erzeugt werden kann, behält im Regelfall seine Gültigkeit (aber vgl. unten). Damit erscheint diese Bestimmung der Souveränität auf den ersten Blick als Fortschreibung der klassischen Konzepti- on. Sie muss jedoch aus einem veränderten inter- nationalen Umfeld heraus gedeutet werden: Die im modernen Völkerrecht beobachtbare Tendenz zum Übergang von der reinen Koordination des zwi- schenstaatlichen Verkehrs zur Kooperation lässt sich als Entwicklung hin zu einer internationalen Gemeinschaft interpretieren. Damit lässt sich auch die Tatsache erklären, dass die UNO-Generalver- sammlung nicht dem Prinzip der Einstimmigkeit folgt. Überdies wird im Rahmen der UNO für die Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit und um den machtpolitischen Realitäten Rechnung zu tragen, von der strikten Gleichbehandlung der Staaten abgewichen (vgl. Mitgliedschaft im Sicher- heitsrat). 66
	        

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