Die wirtschaftliche Hinwendung zur Schweiz und die damit verbundene automatische Rezeption schweizerischer Rechtvorschriften blieben nicht ohne Folgen für die übrige Rechtsordnung. Der aus Triesenberg stammende Jurist Wilhelm Beck34 hatte schon in seiner 1912 veröffentlichten Schrift «Das Recht des Fürstentums Liechtenstein» eine überaus kritische Bilanz gezogen und für die von ihm konsta- tierte Rückständigkeit und mangelnde Volkstüm- lichkeit die Abhängigkeit von Österreich und dessen Gesetzgebung verantwortlich gemacht. Als die von ihm und seinen Anhängern 1918 gegründete, reform- orientierte und schweizfreundliche «Christlich- Soziale Volkspartei» 1922 an die Regierung kam, nützte er diese Chance, um seine wiederholt erho- benen Forderungen nach mehr gesetzgeberischer Eigenständigkeit und Selbständigkeit in die Tat um- zusetzen. Zu seinen ambitioniertesten Plänen zählte das Vorhaben, das seit mehr als einem Jahrhundert in Kraft stehende ABGB sowie das 1865 rezipierte Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB)35 durch ein «Liechtensteinisches Zivilgesetzbuch» zu ersetzen. Diese Absicht stand wohl nicht zufällig ganz oben auf der Prioritätenliste Wilhelm Becks, galt doch gerade das Zivilrecht gemeinhin als «le- bendiger Ausdruck der gestalterischen Tätigkeit ei- ner jeden Nation auf dem Gebiet des Rechts».36 Als Vorbild für das neue liechtensteinische Zivilgesetz- buch sollte sowohl inhaltlich als auch von der Kon- zeption her das schweizerische Zivilrecht dienen. Das lag nahe, da mit dem 1912 in der Schweiz in Kraft getretenen Zivilgesetzbuch (ZGB) und dem Ob- ligationenrecht (OR) eine neue und moderne Zivil- rechtskodifikation existierte, mit der Wilhelm Beck und sein Mitredaktor Emil Beck bestens vertraut waren, weil sie ihre juristische Ausbildung in der Schweiz erhalten hatten. Das geplante «Liechtensteinische Zivilgesetz- buch» sollte aus fünf Teilen bestehen - Sachenrecht, Obligationenrecht, Personen- und Gesellschafts- recht, Familienrecht und Erbrecht -, von welchen allerdings nur zwei Teile verwirklicht wurden und zwar das Sachenrecht aus 192237 sowie das Perso- nen- und Gesellschaftsrecht (das so genannte PGR) von 1926 und 1928.38 Im Sachenrecht orientierten
sich die beiden Gesetzesredaktoren inhaltlich sehr eng am Schweizer Rezeptionsvorbild, während bei der Ausarbeitung des PGR, welches das Recht der natürlichen Personen sowie das Handels- und Ge- sellschaftsrecht enthält, auch andere Rezeptions- grundlagen herangezogen wurden, so wurde z.B. die Treuhänderschaft nach dem Vorbild des angel- sächsischen Trust konzipiert. Die Fertigstellung des Gesetzbuchs scheiterte vor allem daran, dass man sich über die Neukodifikation des Schuldrechts nicht einig werden konnte. Umstritten war insbe- sondere, ob an dem eingeschlagenen Weg, also der modifizierten Rezeption schweizerischen Privat- rechts, festgehalten werden sollte, oder ob es statt- dessen beim Obligationenrecht des ABGB bleiben sollte und zwar in der Fassung der Teilnovellen zum österreichischen ABGB aus 1914, 1915 und 1916. Dieser Zwiespalt war in erster Linie das Resultat ei- nes Regierungswechsels, und zwar war die von Wil- helm Beck angeführte Volkspartei 1928 von der konservativen und schweiz-kritischen «Fortschritt- lichen Bürgerpartei» abgelöst worden. Während die Volkspartei ohne Wenn und Aber eine Annäherung an die Schweiz und deren Rechtsordnung propa- giert hatte, wurden von der Bürgerpartei Alternati- ven zu dem bisherigen Regierungskurs erwogen, wozu in Bezug auf das Privatrecht auch die Rückbe- sinnung auf die ursprüngliche Rezeptionsgrundla- ge, das ABGB, gehörte. Einem generellen Schwenk zurück zur österreichischen Rechtsordnung als Re- zeptionsgrundlage stand allerdings der Zollvertrag mit der Schweiz im Weg, der in vielen Bereichen die liechtensteinische Rechtsordnung beeinflusste, und der darüber hinaus in der Bevölkerung als Grundla- ge für den wirtschaftlichen Aufschwung galt. Solan- ge sich in der Frage der Obligationenrechtsreform keine Lösung abzeichnete, war an eine Reform der übrigen noch ausständigen Rechtsmaterien - Fami- lienrecht und Erbrecht - nicht zu denken. In diesen Privatrechtsbereichen, insbesonders im Eherecht, standen einem Wechsel der Rezeptionsgrundlage zudem erhebliche weltanschauliche Hindernisse im Weg, die die Fortsetzung der Privatrechtserneue- rung zusätzlich blockierten.39 40