REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER- NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945 /Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) an. Im Zusammenhang mit der Evakuierung der fürstlichen Sammlungen im Herbst 1944 wurde er vom Reichswirtschaftsministerium zum «Reichs- treuhänder für die fürstlichen Sammlungen» be- stimmt. Im März 1945 liess er sich in Liechtenstein nieder; 1947 ernannte ihn Fürst Franz Josef II. zu seinem Berater in Fragen der Fürstenbank (Bank in Liechtenstein, BiL) und bei Industriegründungen. Von 1951 bis 1981 war Ratjen Verwaltungsratsprä- sident der BiL. Ab den 1970er Jahren baute er eine Sammlung vor allem alter italienischer Graphik und deutscher Kunst des 16. bis 19. Jahrhunderts auf, die heute Weltrang besitzt und 2001 auf rund 17 Millionen Schweizer Franken geschätzt wurde. Tisas Nachfor- schungen ergaben, dass die Sammlung keine Raub- kunst enthält und Ratjen, der die Grundlage dafür erst in den 1970er Jahren gelegt hat, nachweislich weder Raubkunst nach Liechtenstein verbracht noch über Liechtenstein reingewaschen hat. «Erhebliche Zweifel» ergaben sich hingegen bei den Sammlungen von Ruscheweyh und Herrmann, deren Aufbau bereits während der NS-Zeit begon- nen hatte, bei Steegmann, der seit den 1950er Jah- ren gesammelt hatte, sowie bei den fürstlichen Sammlungen. Nur bei Letztgenannten konnte tat- sächlich Raubgut identifiziert werden, bei den ande- ren «sind die Verdachtsmomente» laut Tisa «aller- dings sehr substantiell». Die Sammlungen von Ru- scheweyh und Herrmann sind in der Zwischenzeit wieder aufgelöst worden, jene von Ratjen und Steeg- mann befinden sich im Ausland. Auch der in Erfurt geborene Geschäftsmann Ru- dolf Ruscheweyh war während der NS-Zeit für die deutsche Abwehr tätig. Bis 1940 lebte er in Deutsch- land, nach der Besetzung Frankreichs im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) in Pa- ris. Seit Mitte der 1920er Jahre war er mit dem Schweizer Industriellen Emil G. Bührle bekannt. Von 1939 bis 1945 wickelte Bührles Werkzeugma- schinenfabrik Oerlikon Bührle & Co. alle Lieferun- gen nach Deutschland über Ruscheweyh ab, der enorme Provisionen kassierte. Zugleich stand Ru- scheweyh dem Chef des deutschen Nachrichten-dienstes,
Admiral Canaris, nahe und unterstützte diesen finanziell. Anfang 1944 übersiedelte Rusche- weyh nach Liechtenstein; kurz nach seiner Einbür- gerung im Jahr 1948 setzte er sich in die USA ab. Der von den Alliierten geäusserte Verdachte, Ru- scheweyh habe für Bührle in Frankreich Kunstwer- ke erworben, lässt sich laut Tisa nach bisherigem Wissensstand nicht erhärten. Dasselbe gilt für den vielfach erhobenen Vorwurf, Ruscheweyh habe Raubgut verwertet und in die Schweiz sowie nach Liechtenstein geschmuggelt. Die zahlreichen Ge- rüchte wurden unter anderem von Ruscheweyhs Wohlstand und aufwendigem Lebensstil sowie sei- nen Kontakten zu Personen, die mit Raubkunst gehandelt hatten, genährt. Trotz lückenhafter Anga- ben über die Flerkunft seiner Vermögenswerte ge- lang es ihm, sein gesamtes Vermögen in die Nach- kriegszeit hinüberzuretten und sich einer straf- rechtlichen Verfolgung zu entziehen. Dem Wirtschaftsanwalt und Kunstsammler Dr. Josef Steegmann wurde aufgrund seines wichtigen Beitrags zur Evakuierung der fürstlichen Sammlun- gen 1946 das liechtensteinische Ehrenbürgerrecht verliehen. Steegmann, 1903 in Saarbrücken gebo- ren, war während der NS-Zeit juristischer Berater der schweizerischen Gesandtschaft in Berlin. Er vertrat als Anwalt auch die Galerie Fischer in Lu- zern, den bedeutendsten Umschlagplatz für Raub- kunst in der Schweiz, und pflegte Kontakte zu Kunsthändlern und Kunstexperten, die nachweis- lich in den Handel mit Raubgut involviert waren. Seit 1937 Mitglied der NSDAP, wurde er 1941 ins Amt Ausland/Abwehr des OKW berufen. Seine Kontakte zu Walter Schellenberg, der nach dem At- tentat vom 20. Juli 1944 die Leitung des Amtes übernahm, erwiesen sich für Steegmann vor allem im Zusammenhang mit der von ihm geleiteten Über- führung der fürstlichen Sammlungen von Wien nach Liechtenstein 1944/45 als nützlich. Steeg- mann lebte von 1945 bis 1954 und dann wieder von 1968 bis zu seinem Tod 1988 in Liechtenstein. Tisas Nachforschungen haben ergeben, dass Steegmann während der Jahre der NS-Herrschaft mit grosser Wahrscheinlichkeit keine Kunstwerke erworben hat, da erste Ankäufe erst ab 1950 doku- 261