Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

REZENSIONEN / LIECHTENSTEIN UND DER INTER- NATIONALE KUNSTMARKT 1933-1945 Wer von Tisas Bericht sensationelle Enthüllun- gen im Hinblick auf die Verschiebung von Raubgut nach oder über Liechtenstein während des Zweiten Weltkriegs erwartet, wird enttäuscht. Die diesbe- züglichen Gerüchte gehen, so eine These von Tisas Arbeit, «auf die Evakuierung der Sammlung des Fürsten aus Wien und ihren abenteuerlichen Ab- transport nach Vaduz zurück», vor allem auch auf die Beteiligung zweier NS-naher Akteure in dieses Unternehmen und deren Grenzübertritt im März 1945. Tisa betont, dass es sich bei diesem oft als spekta- kulär beschriebenen Transfer eindeutig nicht um die Verschiebung von Raubkunst, sondern im Ge- genteil, um Fluchtgut gehandelt hat. Das Fürsten- haus zählte nicht zum Kreis der Verfolgten, doch war während des NS-Regimes der Abtransport der fürstlichen Sammlungen zunächst durch eine Verfü- gung der Wiener Denkmalbehörde im Jahr 1938 und durch die Verzeichnung der 2 700 wichtigsten Objekte auf der «Reichsliste» national wertvoller Kulturgüter Mitte 1944 untersagt worden. Erst als die Sammlungen aus strategischen Gründen zwei- geteilt wurden, konnte gegen Ende 1944 eine Aus- fuhrgenehmigung für den weniger wertvollen Teil erwirkt werden. Im März 1945 wurde dann die Be- willigung zur Evakuierung der kunsthistorisch und materiell wertvollsten Stücke auf die Bodenseeinsel Reichenau erteilt, von wo aus sie illegal nach Liech- tenstein gelangten. Erst seit den 1970er Jahren sind die fürstlichen Sammlungen wieder im Wachsen be- griffen. Ihr Sitz befindet zwar nach wie vor auf Schloss Vaduz, wo ein Grossteil der Objekte im De- pot gelagert ist. Die Spitzenwerke sind heute jedoch wieder in Wien der Öffentlichkeit zugänglich - im 2004 eröffneten «Liechtenstein Museum». Auch wenn Tisas Studie überzogene Vorstellun- gen von einer gross angelegten Verschiebung von NS-Raubkunst nach Liechtenstein korrigiert, ge- winnt man in keiner Weise den Eindruck, dies resul- tiere aus einem Bemühen um Beschönigung oder Exkulpierung. Die Sprengkraft liegt nämlich in den zahlreichen Details, die die Autorin akribisch zu- sammengetragen hat. Ihre Recherchen über die fürstliche Sammlungspolitik während der Kriegs-jahre 
sowie über eine Reihe von Neubürgern ma- chen klar, dass das Fürstentum den Umgang mit NS- nahen Akteuren weder während des Krieges noch danach gescheut und dass es sich vielfach auch op- portunistisch verhalten hat. Im Gegensatz zur Schweiz war Liechtenstein in den 1930er und 1940er Jahren ein wirtschaftlich wenig entwickeltes, agrarisch geprägtes Land mit geringer Kaufkraft und ohne prägende internatio- nale Bindungen. Zwischen 1930 und 1945 wurden 394 Personen eingebürgert, unter ihnen sowohl jü- dische Verfolgte als auch Kapital- und Steuerflücht- linge. Wegen der hohen Kosten der Einbürgerung hatten mittellose Flüchtlinge kaum Chancen, in Liechtenstein Aufnahme zu finden. Liechtenstein eignete sich - auch aufgrund der latent vorhande- nen «Anschluss»-Gefahr - nicht als Fluchtort oder als Absatzmarkt für Fluchtgut kultureller Natur. Kunstsammlungen, Hausrat und Umzugsgut jegli- cher Art fanden hier kaum Absatz. Den Neubürgern sollte die liechtensteinische Staatsbürgerschaft in erster Linie als Sicherheit dienen, in der Regel Les- sen sie sich nicht im Land nieder. Der neue Pass er- möglichte zwar einzelnen von ihnen die Ausreise in ein sicheres Drittland, bot jedoch keinen effektiven Schutz für ihre im NS-Bereich verbliebenen Vermö- genswerte. Liechtenstein, das unter der Wirtschaftskrise litt, begann ab den 1920er und verstärkt in den 1930er Jahren seinen Staatshaushalt durch eine volkswirt- schaftliche Nischenpolitik - unter anderem durch Fi- nanzeinbürgerungen und die Einnahmen von Domi- zilgesellschaften - zu sanieren. Von der Existenz ei- nes Kunstmarkts kann im Hinblick auf diesen Zeit- raum dagegen nicht die Rede sein. Während in der benachbarten Deutschschweiz private wie öffentliche Sammlungen internationalen Ausmasses existierten, gab es im Fürstentum - mit Ausnahme des Postmu- seums - nur einige wenige, ausschliesslich auf liech- tensteinisches Kulturgut ausgerichtete Sammlungen, keine Galerien und kaum Kunsthändler. Erst durch die Einbürgerung kunstinteressierter Ausländer in der Nachkriegszeit sowie die Über- führung der fürstlichen Sammlungen nach Liech- tenstein 1944/45 war der Grundstein für die Aus- 259
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.